Die Auserwählten


Ich kann nicht ...!" flüsterte er. Und die Verzweiflung kroch in ihm hoch und lähmte seine Gedanken.

"Du musst Geduld haben", flüsterte sie zurück. "Wir haben doch Zeit, sehr viel Zeit ...!"

Mit scheuer Zärtlichkeit berührte sie seine schweißnasse Stirn, seine Augen, seine Lippen.

"In zwei Stunden wird es hell!" Seine Stimme begann zu zittern. Panik hatte ihn erfasst: "Um neun müssen wir den Vollzug melden."

Sie antwortete nicht. Als könne sie so seine Angst verscheuchen, das Netz der Mutlosigkeit zerreißen, in das er sich eingesponnen hatte, ließ sie ihre Fingerspitzen weiter wandern. Über seine feuchte, kalte Haut. Über die verkrampften Muskeln.

Als sie, wie zufällig, sein schlaffes Glied berührte, zuckte er zusammen und drehte sich zur Seite.

Etwas war schiefgelaufen im Programm. Das Komitee hatte sie vereint, um sie glücklich zu machen. Sie waren Auserwählte. Alle Daten stimmten überein. Da war kein Irrtum möglich.

Gestern früh hatte man sie zusammengeführt. Vor dem Hochzeitspalast. Am Ufer des künstlichen Sees. Eine Stunde lang hatten sie Zeit, sich näher zu kommen, miteinander zu reden und vertraut zu werden. Und sich in Ruhe zu betrachten. Inmitten einer schier unübersehbaren Menschenmenge: viertausend Auserwählte.

Dann erhielten die jungen Frauen den Schleier, der sie fast völlig verhüllte. Die Männer eine weiße bodenlange Toga. Unter elektronischem Glockengeläut strömten sie hinein in die Halle, und die Zeremonie begann.

Die zweitausend Paare wurden gleichzeitig getraut. Die >Große Mutter der Freien Welt< spendete selbst ihren Segen. Da erhoben sie ihre Hände, blickten hinauf in die gigantische Kuppel, wo das gläserne Kreuz in ständig wechselnden Farben erstrahlte. Und gemeinsam sprachen sie das Gelöbnis. Damit waren sie Mann und Frau.

Zweitausend Paare hielten sich verzückt umschlungen und sangen die >Hymne der Freiheit<. Die Orgel toste noch, als Priesterinnen ihnen Schleier und Toga wieder abnahmen und die Kostüme einsammelten.

In ihren neuen, weißen Freizeit-Overalls zogen sie lachend und singend durch die Straßen der Stadt, schwangen Sträuße aus künstlichen Blumen und demonstrierten ihr großes Glück.

Viertausend Auserwählte.

Sie gingen Hand in Hand. Passanten blieben stehen, klatschten in die Hände, winkten ihnen zu. Sehr viele waren es nicht. Denn diese Zeremonie fand jeden ersten Freitag im Monat statt.

Ihr großes Glück drohte nun zu scheitern. Es konnte nur an ihnen selbst liegen. An ihnen beiden. Ganz persönlich. Das Komitee hatte sich noch nie geirrt. Man hatte sie auserwählt. Und nun waren sie im Begriff, zu versagen.

Dabei hatte alles so gut begonnen: Seine Wartezeit war überraschend kurz gewesen. Vor knapp fünf Monaten erst hatte er seinen Antrag eingereicht. Er sah sich noch in der langen Warteschlange stehen. Nackt, inmitten von zwei- oder dreihundert anderen, jungen und gut durchtrainierten Männern. Alle Geburtsjahrgang 1984. In der linken Hand die Standard-Labor-Flasche mit der Urin-Probe, in der rechten ein Schälchen mit Sperma.

Der Warteraum war erfüllt von Gelächter. Sie gaben sich alle unendlich witzig und alberten herum. Vermutlich um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen. Denn Nacktheit war außerhalb der öffentlichen Solarien, mit ihren Wasserbecken, Ozonbädern und diskreten Ruheräumen, ein Tabu. Nur vorn, wo die Reihe der Kandidaten hinter dem weißen Vorhang verschwand, wurde es merklich stiller.

Seine Flasche und das Schälchen erhielten eine Nummer. Es war der gleiche Code, den man ihm bei Schulbeginn auf beide Handrücken tätowiert hatte. Dann die Untersuchung mit Röntgenstrahlen und mit Ultraschall.

Eine nicht mehr sehr junge, blond gefärbte Internistin prüfte routiniert seine sämtlichen Reflexe, befingerte seine Muskeln und sein Geschlecht, jagte ihm eine Spritze mit gelber Flüssigkeit unter die behaarte Haut seiner Brust, entnahm seiner linken Armvene einen größeren Kolben Blut und machte sich Notizen. Das alles, ohne ein einziges Wort zu reden. Und ohne zu lächeln.

In der neunköpfigen Jury, die seine sportlichen Leistungen zu beurteilen hatte, saßen, zwischen älteren, virilen Frauen, auch zwei Männer. Es gab also keinerlei Diskriminierung. Alles wirkte fair und ausgewogen. Er turnte vor wie verlangt, stemmte Hanteln und absolvierte, rasch und ohne dass sein Atem merklich schneller wurde, ein Dutzend Liegestütze. Wobei ihn die Drähte behinderten. Die Drähte des EKG-Geräts, an das man ihn angeschlossen hatte.

Seine Nacktheit allerdings, vor den interessierten Augen dieser gemischten Kommission, empfand er als äußerst unwürdig und beschämend. Er fühlte sich vollkommen schutzlos ausgeliefert. Dafür war seine erkämpfte Punktzahl durchaus zufriedenstellend.

Der psychologische Test dauerte vier Stunden. Zweitausend Fragen, die auf dem Monitor eines Computers erschienen, waren mit >ja< oder mit >weiss-nicht< zu beantworten. Durch einfachen Tastendruck. Ein >nein< gab es nicht. >Nein< kam im System nicht vor.

Eine mütterlich wirkende Frau in einem weißen Ärzte-Overall führte die Aufsicht. Sie beobachtete ihn immer wieder mit ihrem strengen Blick, wenn sie beim Abschreiten der langen Reihe der Bewerber, die schweigend und konzentriert vor ihren Testgeräten hockten, bei ihm vorbeikam. Es irritierte ihn. Es sollte ihn irritieren.

Sechs Wochen später kam der Bescheid: Er hatte bestanden, galt nun als qualifiziert für eine Ehe und war zur Fortpflanzung zugelassen. Die Datenbank des >Komitees für Ehe und Familie< hatte ihn als geeigneten Mann für eine bereits auserwählte Partnerin vorgemerkt.

Die Nachricht war für ihn und seine Kollegen ein willkommener Anlass, eine Nacht lang zu feiern. Dann begann in Abendkursen seine sexualkundliche Unterweisung.

Sie machte sich Sorgen. Um ihn. Nicht um sich. Ihr konnte nicht viel passieren. Annullierung der Ehe. Ein paar Monate Wartezeit. Ein neuer Antrag. Und irgendwann, wenn sie Glück hatte, ein neuer Mann. Schlimmstenfalls künstliche Besamung.

Die Betten in den zweitausend Brautkammern des Hochzeitspalastes waren superbreit. Aber er lag am äußersten Rand und drehte ihr den Rücken zu. Sie schmiegte sich an ihn. Nicht, weil sie dazu verpflichtet war, sondern weil sie ihn mochte. Sie wollte ihn glücklich machen. Und sie wollte ihn nicht verlieren!

Noch nie war sie einem Mann so nah gewesen. Sie atmete den fremden Geruch seiner Haut. Schweiß, vielleicht auch Angstschweiß. Dann presste sie ihr Gesicht gegen seinen Nacken und wartete.

Schade, dachte sie. Wirklich schade, wenn nichts daraus würde, wenn er tatsächlich versagte. Für ihn wäre das Spiel dann sicher vorbei. Für alle Zeiten.

Er war ihr sympathisch. War groß und sportlich. Hatte ein sehr bezwingendes Lächeln und eine angenehme Stimme. Sie stellte sich vor, dass es schön sein musste, von ihm umarmt zu werden. Und da ihre gemeinsamen Daten das Komitee veranlasst hatten, sie zusammenzuführen, musste es auch schön sein, mit ihm zu leben. Einige Wochen lang, einige Monate, vielleicht auch länger.

Sie waren füreinander bestimmt, und sie würde es als großes Glück empfinden, von ihm zu empfangen und Kinder zu gebären. Und nach den Ergebnissen all dieser Tests müssten auch diese Kinder sehr glücklich werden. Egal, in welchem Jungbürger-Camp man sie großzog.

Als er im Kreis der Kollegen zum erstenmal preisgab, dass er sich gemeldet hatte, dass er bereit war, das >große Glück der Ehe< zu wagen, erntete er nur Hohn und Spott.

Zugegeben, sie waren alle wesentlich jünger als er und hatten anscheinend andere Interessen. Vielleicht war es auch Neid.

Nur jeder zehnte kam in die engere Wahl. Und erst mit sechsundzwanzig Jahren hatte ein Mann das Recht, einen Antrag beim >Komitee für Ehe und Familie< zu stellen. Erst in diesem Alter galt er als reif für die Verantwortung, die eine Familiengründung mit sich brachte.

Er war Geheimnisträger. Jobs wie den seinen gab es für Männer nur selten. Sie waren ein kleines Team, das hinter den fest verschlossenen Türen des Zentralarchivs arbeitete.

Sie werteten alte Filme und Videobänder aus, Nachrichten und Dokumentationen aus der Vorzeit, die neu zusammen montiert und mit aktuellem Kommentar versehen, von den Fernsehsendern der >Stimme der Freiheit< ausgestrahlt wurden.

>Eine Minute der Rück-Besinnung< hießen die kurzen Beiträge. An den technisch unvollkommenen Bildern, die zeigten, wie elend und trostlos die Menschen der Vergangenheit dahinvegetierten, ließ sich der Fortschritt in der >Freien Welt< sehr augenfällig demonstrieren.

Damals war >Das Glück< noch nicht zum höchsten Gut der menschlichen Gesellschaft erkoren worden. Man redete zwar viel darüber, erwähnte es sogar ausdrücklich in der Verfassung einiger Staaten, aber ansonsten überließ man die Menschen sich selbst.

Sie hatten in Fabriken zu arbeiten, Maschinen zu bauen, Lasten zu transportieren und unter Tage Kohle zu schürfen. Und das alles mit eigenen Händen. Und wenn sie durch irgendeinen Umstand von dieser unmenschlichen Plackerei befreit wurden, betrachtete man diesen Status als großes Unglück. Man propagierte das >Recht auf Arbeit<. Statt den >Anspruch auf Glück<!

Es war ziemlich einfach, für ihn und seine Kollegen, solche Dokumenten einer kulturell und technisch noch rückständigen Gesellschaft bissige und ironische Texte zu unterlegen:

Anstatt sich in einem Solarium zu entspannen, strömten damals Millionen, in unzweckmäßige Fahrzeuge gezwängt und in dichtgedrängten Reihen, kreuz und quer durch besiedeltes und industrialisiertes Land und durch wildwuchernde Natur. Nur um in ihrer kargen Freizeit eine fragwürdige Art der Zerstreuung zu suchen.

Und die damals noch unterprivilegierten Männer mussten in hässlichen Uniformen, mit schweren, unförmigen Waffen in der Hand, Tag und Nacht die >Freie Welt< verteidigen. Dabei war diese durch Automaten bereits hinreichend geschützt.

Dass es dabei – irgendwann einmal – zu einer Katastrophe kam, wurde offiziell nie erwähnt. Das war kein Thema, das offen diskutiert werden durfte. Aber nun war die Chance gegeben, die immensen Lücken, die diese >Panne< in der Bevölkerung hinterlassen hatte, durch gezielt erzeugtes, hochwertiges Menschenmaterial aufzufüllen. Daran mitwirken zu dürfen war ein außerordentliches Privileg.

Nur, wenn er jetzt versagte, wenn man ihn, und das zu Recht, als unzuverlässig einstufen musste, lief er Gefahr, auch noch seinen guten Job zu verlieren. Er wusste dann nicht, was er zwischen zehn und vierzehn Uhr Sinnvolles hätte erledigen können. Mehr als die täglichen sechs Stunden Sport empfand er als unzumutbar. Und seine Tage vor der Bildwand oder im Solarium zu verbringen, das konnte nicht der Sinn des Lebens sein.

Sie war regelrecht angeworben worden. Ausgerechnet in einem Spielsalon, wo sie nach drei Stunden täglicher Unterrichtszeit regelmäßig ihre Freizeit verbrachte. Eine ältere Frau, deren taxierende Blicke sie bereits seit Stunden irritierten, sprach sie an. Die Frau war Mitglied des >Komitees für Ehe und Familie< und hatte die entsprechenden Formulare gleich mitgebracht.

Man hatte sie über viele Wochen beobachten lassen. Hier, beim Spiel an den Automaten, beim Sport und im Jungbürger-Camp beim Umgang mit Aufzuziehenden. Ihr Privatleben wurde als tadellos eingeschätzt. Eine Ehe und die Geburt eigener Kinder, so sagte die Agentin, wären durchaus in der Lage, das persönliche Glück einer Auserwählten noch zu steigern und ihr Leben zu bereichern. Abgesehen vom Nutzen für die Gesellschaft, wenn durch die Weitergabe ausgewählten Erbguts eine neue, freiere und glücklichere Generation heranwachsen wird.

Sie erinnerte sich an einige plumpe Provokationen junger Männer und Frauen, die sich ihr in letzter Zeit mit sexuellen Angeboten genähert hatten. Sie war standhaft geblieben, hatte geahnt, dass man sie auf die Probe stellte, und hatte immer höflich abgelehnt, eingedenk des kategorischen Grundsatzes der >Freien Welt<, dass wahres Glück nur in der Unterwerfung unter die absoluten Normen, also im Gehorsam, in Entsagung und Demut gedeihen könne.

Die Gesetze des >Kreuzes der Freiheit<, die Unkeuschheit, wilde Ehen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder ungenehmigte Fortpflanzung hart bestraften, waren zahlreich und hart und schwer zu ertragen gewesen. Aber es war ihr gelungen, ihre Triebhaftigkeit unter Kontrolle zu halten. Durch Sport und Meditation. Und durch den Glauben an das Glück.

Sie hatte über ihrem Bett sogar freiwillig ein >Auge der großen Mutter der Freiheit< installieren lassen, eine Video-Kamera des universellen Überwachungsnetzes, durch das sie ständiger Kontrolle ausgesetzt war. Als Beweis, dass sie auch jedem Versuch der Selbstbefriedigung entsagte.

Allerdings kam es ihr manchmal in den Sinn, dass ihre so demonstrativ zur Schau gestellte Loyalität auch nur Tarnung sein konnte, pure Berechnung. Denn insgeheim fieberte sie manchmal vor unterdrückter Lüsternheit.

Er atmete tief und drehte sich auf den Rücken. Dann griff er nach ihrer Hand. Es war, einem gestern noch wildfremden Menschen gegenüber, eine ungemein bekennende Geste, mit der er sich preisgab und auslieferte. Er bat sie um Verzeihung. Sie begriff dieses Zeichen und erwiderte seinen Händedruck im stummen Einverständnis. Das machte ihn glücklich.

Noch immer spürte er keine Kraft in sich, nur Verzagtheit und Angst. Er starrte zur Decke. Das obligatorische Kreuz, das in allen öffentlichen Räumen hing, schimmerte kalt und metallisch im indirekten Licht. Er war überzeugt, dass sie auch hier ein >Auge< installiert hatten, um den Vollzug der Ehe zu kontrollieren.

Ohne den Kopf zu bewegen, suchte er nach der kleinen, schimmernden Linse. Wenn hier kein >Auge< existierte, wenn sie nicht registrieren wollten, was in den Brautbetten geschah, warum brannte dann das Licht hinter dem Kreuz die ganze Nacht?

Und wenn sie sein Versagen und seine Qual bereits entdeckt hatten, war dann nicht ohnehin schon alles verloren?

Wie groß war die Chance des Überwachungspersonals, zweitausend kopulierende Paare gleichzeitig im Auge zu behalten?

Er tröstete sich mit der Nachlässigkeit dieser Leute. Mit deren Trägheit. Und rechnete insgeheim mit deren Geilheit. Die hatten doch Erregenderes zu betrachten als einen, der sich offensichtlich gerade – vorübergehend – entspannt. Er räkelte sich und gab sich den Anschein wohliger Erschöpfung.

Von einem der Nebenräume her hörte er die leisen Schreie einer Frau, das rhythmische Keuchen eines Mannes. Überall taten sie also ihre Pflicht. Er merkte, wie ihn dieser Gedanke irritierte. Leider ohne ihn zu erregen.

Mit der freien Hand drehte er die Musik etwas lauter und versuchte zu meditieren. Eine vorübergehende Verkrampfung hatte ihn erfasst, weiter nichts. Kein Grund zur Besorgnis. Er war glücklich, und es würde bestimmt alles gut werden. Er atmete regelmäßig, dirigierte alle Energien in sein Glied und konzentrierte sich ganz und gar auf das schimmernde Metallkreuz über dem Bett.

Im vorigen Jahrhundert wurden gekreuzte Balken bisweilen mit einem gemarterten Menschenleib dargestellt, der auf grausame Weise daran befestigt war. Das hatte mit irgendeinem archaischen Foltermythos zu tun, der schließlich verboten wurde. Für die >Freie Welt< war das Kreuz einzig und allein das Symbol allumfassenden Glücks. Und über Freiheit und Glück wachte die >Große Mutter<, die Spenderin allen Lebens, die Ernährerin, die Hüterin von Recht und Ordnung, die Beschützerin vor allem Übel und der Urquell allen Seins.

Wie alle Mütter war auch sie grausam und gerecht. Sie hatte den Männern der >Freien Welt<, von denen sie absolute Unterwerfung forderte, fast die gleichen Rechte eingeräumt, die Frauen immer schon besaßen. Oder war das früher anders gewesen?

Er erinnerte sich an diese alten Filme und Videobänder. Und es war ihm durchaus bewusst, warum er als Geheimnisträger mit niemanden über die Vergangenheit sprechen durfte. Weil die Wahrheit über den Fortschritt, über Freiheit und Glück, vielleicht auch ein etwas anderes Gesicht haben konnte, konträr zu dem, was täglich – auch von ihm – verkündet wurde.

Man hatte ihnen acht Wochen Braut-Urlaub genehmigt. Die Hochzeitsreise an die See bezahlte und organisierte das Komitee. Das stand nun alles auf dem Spiel.

Sie liebte das Meer. Sie hatte es schon einmal erlebt, drei Tage lang, hatte das Spiel der Wellen bewundert, die drohend heranrollten, sich an den öligen Klippen brachen und ihre braune Gischt gegen die riesigen Glasfenster sprühten, hinter denen die Besucher gut geschützt das Schauspiel betrachten konnten.

In der >Minute der Rückbesinnung< hatte sie einmal erregende Bilder aus der Vergangenheit gesehen: Da lagen Tausende nackt am Strand. Ungeschützt. Dicht am Flutsaum. Und dann stürzten sich die Wahnsinnigen tollkühn in die Brandung. Und sie empfanden ganz offensichtlich eine Art Genuss dabei. >Organisierter Selbstmord< nannte der Kommentar dieses tödliche Ritual ihrer unzivilisierten und gesetzlosen Ahnen. Meerwasser, das mussten sie damals schon wissen, war verschmutzt und verstrahlt, verseucht und ätzend, und es fraß sich sogar durch Metall.

Damals, so hatte man ihr berichtet, lebten Tiere in diesem Meer. Die wurden gefangen und verzehrt. Eine ekelerregende Vorstellung. Wozu die Menschheit dieser Vergangenheit doch fähig war!

Insgeheim, jedoch, bewunderte sie diese Barbaren: Sich nackt in einem Meer treiben zu lassen, das mit hohen, sich überschlagenden Wellen bis in die Unendlichkeit zu reichen schien, das musste wahrhaftig eine ungeheure, eine unglaubliche Lust sein.

Sich zu paaren, mit wem man will. Wann man will. Ohne Rücksicht auf Gesetz und Sitte. Einfach umarmt werden. Zuneigung empfinden ohne Reue. Unkontrolliert. Unbeobachtet. Unbeaufsichtigt. Ohne die Zustimmung irgendeines Komitees. Ohne die glückliche Kombination irgendwelcher Daten. Sich einfach ausliefern. An Trieb und Gefühl. Und an einen Menschen seiner Wahl. Und ganz aus freiem Willen!

Sie spürte jetzt, wie ihre Haut bei dieser Idee erschauerte. Und wie diese tödlichen, alles verschlingenden Meereswogen brandeten verbotene Empfindungen über sie hinweg. Sie presste ihre Hand auf ihre Scham und hoffte, dass er es nicht bemerken würde, wie alle ihre Muskeln zu vibrieren begannen.

"Ich habe Durst", sagte er und stand auf.

"Bleib!" Sie versuchte ihn festzuhalten. Und er spürte, dass ihre Hand heiß und feucht geworden war. Aber er ging trotzdem.

Das Nachtlicht im Bad verbreitete einen blauen Schimmer. Er zog einen Plastikbecher aus der Metallröhre unter dem Wasserspender und füllte ihn bis zum Rand. Das Wasser war eiskalt, und seine Zähne schmerzten mit jedem Schluck. Das Destillat war keimfrei und rein und schmeckte schal, trotz der Mineralsalze und Vitamine, die ihm beigemischt waren.

Vermutlich war der >Liebes-Nektar< daran schuld. Eine Art synthetischer Wein. Der hatte seinen Gaumen süßlich verklebt. Einen ganzen Liter hatte man ihnen zugeteilt. Als Brautgeschenk des Komitees. Vermutlich zur Anregung und Ermutigung. Aber es hatte nicht viel genutzt.

Er entleerte seine Blase und betrachtete dabei das Bild seines Körpers in der getönten Spiegelwand. Das blaue Dämmerlicht auf seiner Haut ließ sie jünger und muskulöser erscheinen. Das stand er nun, hielt sein schlaffes Glied in der Hand, und die ganze Situation erschien ihm absurd.

Er war endlich am Ziel seiner Träume. Draußen lag, wonach er sich jahrelang gesehnt hatte, eine junge Frau. Und sie war bereit, ihn zu umarmen.

Sie hatte schöne Brüste, straffe Schenkel, solargebräunte Haut und ein hübsches, intelligentes Gesicht.

Er dachte an die geheimen Video-Sequenzen einer unmoralischen Vergangenheit. An die nackten Frauen am Meer, die regungslos in der Sonne lagen. An schlüpfrige Szenen irgendwelcher obszöner Filme. Wo Paare sich küssten. Wo sich auf unhygienische, triebhafte Art Lippen und Münder berührten. Wo sich Menschen ihre Gefühle gestanden. Ohne Scheu. Ohne an die gesellschaftlichen Konsequenzen zu denken.

Er dachte, dass diese Paare auf eigenartige Weise frei und glücklich schienen. Und dieses vulgäre Glück, diese entartete, viehische Triebhaftigkeit, diese animalische Besessenheit kam ihm immer in den Sinn, wenn er verbotenerweise onanierte.

Und dann dachte er weiter: Was war an dieser Vergangenheit so sträflich und schlecht, an dieser archaischen und barbarischen Existenz der Ahnen? Sie lebten frevelhaft und sittenlos, weil sie es nicht besser kannten. Waren sie deshalb auch unglücklich?

Vermutlich war es schwierig, sich aneinander zu freuen, sich zu lieben, sich zu paaren, ohne den Segen eines Komitees. Ohne die aufeinander abgestimmten Daten. Aber sinnlich und triebhaft zu sein, ohne Reglement und Schuldgefühle, das war doch auch eine Möglichkeit des Daseins.

Er hatte plötzlich das Verlangen, einfach ein Mann zu sein, der eine Frau begehrt! Und der sie verführt! Und erobert! Und der nicht nur, verplant, instruiert und getestet – funktionieren muss. Weil er zur Fortpflanzung zugelassen war. Und der nun zittert vor dem Morgenappell. Mit Ehe-Vollzugsmeldung. Und einer zum Schwur erhobenen Hand.

Er spürte, wie zusammen mit diesen ketzerischen Gedanken die Kraft in seinen Lenden zurückkehrte. Und in sein Glied. Und er begann Hoffnung zu schöpfen. Und während er seine wiedergewonnene Potenz weiter stimulierte, spürt er das >Auge< über sich, die kleine, schimmernde Linse.

Aber er hatte in diesem Augenblick seine Scham verloren. Und seine Angst. Ja, dachte er, seht nur her! Schaut nur zu! So bereite ich mich darauf vor, meine Pflicht zu tun!

Er wusste, dass er log! Sonst hätte er jetzt, wo es ihm endlich möglich war, hinausgehen und die Ehe vollziehen müssen. Aber er ging nicht hinaus. Er masturbierte weiter. Es war ein Akt des Protests. Gegen diese Art von Freiheit. Gegen diese Art von verordnetem Glück. Und als er den Kitzel in sich aufsteigen fühlte, presste er seine Stirn gegen das kalte Glas des Spiegels und glaubte, laut aufschreien zu müssen. Aber nicht aus Lust. Sondern aus Verzweiflung. Und aus Trotz.

Als alles vorbei war, als er die Spuren seines fluchwürdigen und gesetzwidrigen Tuns beseitigte, wusste er, dass sie keine Gnade kennen würden, und dass sie seine Existenz, nämlich die eines >perversen Kranken<, mit Sicherheit vernichten würden. Sofern sie das, was soeben geschehen war, registriert hatten.

"Du warst lange weg", flüsterte sie. Und es klang, als wüsste sie, was sich soeben ereignet hatte. Und sie schmiegte sich an ihn.

Er spürte ihre Hitze und ihr großes Verlangen, und er ahnte, aus einem tiefen Instinkt heraus, der tausend mal tausend Jahre alt sein mochte, dass mit ihr Ähnliches geschehen war.

"Ja", flüsterte er zurück, "ich war lange weg!" Und er nahm ihr Gesicht und küsste sie. Auf den Mund. Ganz spontan. Unkontrolliert. Und gegen jede Vernunft. Weil er plötzlich unendlich viel Zärtlichkeit empfand für diesen Menschen, der ihm so ähnlich war. In der Empfindung. Und in der Auflehnung.

Und dann kam sie mit ihren Lippen dicht an sein Ohr. "Hab keine Angst! Ich halte zu dir!" Ihr Flüstern war nur noch eine Hauch. "Ich werde die Hand heben, zum Schwur, morgen früh. Ich werde einen falschen Eid schwören! Weil ich dich behalten will. Weil ich dich brauche. Weil ich dich liebe!"

Diese Freimütigkeit raubte ihm für Sekunden den Atem. Sie hatte sich ihm ausgeliefert. Auf einen falschen Schwur stand der Tod. Auf das Eingestehen von Gefühlen lebenslange Verwahrung in der Psychiatrie. Es war auch keine Provokation. Es war ein Bekenntnis!

Der Computer, der die beiden zusammengeführt hatte, war auch diesmal erfolgreich gewesen. Er hatte sich noch nie geirrt. Nur diesmal war der Treffer fatal: Für das Komitee, für das System! Nun paarte sich der Zweifel. Vielleicht zum ersten Mal. Und er vermählte sich zur Rebellion, die beide, in gleicher Weise, unentdeckt, unerweckt, in sich trugen.

Und irgendwann, in den restlichen Stunden dieser langen Nacht, brach er sein Geheimnis und berichtete von einem anderen Glück, von einer anderen Freiheit.

Und irgendwann, in den restlichen Stunden dieser langen Nacht, umarmten sie sich. Nein, nicht aus Pflichtgefühl oder Zwang. Sondern aus dem noch nie erfahrenen Gefühl gemeinsamer Auflehnung. Und aus dem grenzenlosen Urvertrauen heraus, das wir Liebe nennen.

Und wenn sie morgen früh um neun die Hand zum Schwur heben werden, gemeinsam mit zweitausend anderen Paaren, dann würde dieser Schwur zwar jeder Nachprüfung standhalten, aber keine Bedeutung mehr haben. Denn in dieser Nacht, unter den Blicken des >Auges<, das keine Macht mehr über sie hatte, beschlossen diese beiden Auserwählten, ihre Zukunft, ihr Leben und ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen.