Der Käse


Es war einmal – vor gar nicht allzulanger Zeit – ein Senner! Der war jung und kernig und strotzte nur so, wie man treffend sagt, von Gesundheit, Saft und Kraft.

Er lebte sträflich einsam, auf einer abgelegenen Alm hoch über dem Tal. Und da es ein Freitag war, saß er am Rand des Brunnens, lehnte sich gegen die Mauer aus rohen Felsbrocken, auf der sich, aus klobigen, verwitterten Balken gezimmert, die Sennhütte erhob – und wusch sich die Füße.

Sein Blick ruhte dabei wohlgefällig auf den fleischigen, braunweißen Leibern seiner Rinderherde. Die Kühe mit ihren prallen, schwankenden Eutern grasten friedlich rings um ihn her auf sattgrünen Hängen und Matten. Majestätisch erhob sich darüber irgendein vielbestiegener, vergletscherter Gipfel in seiner ewigen Erhabenheit. Während unten im Tal eine Autobahn mit einem geradezu unendlichen Verkehr die sterbenden Wälder grausam durchschnitt.

Hell übertönte das Mittagsgeläute der alten Benediktinerabtei das dumpfe Dröhnen der Lastwagenkolonnen, kündete von der Allmacht des Allerhöchsten bis herauf zu dieser Alm und vermischte sich mit dem blechernen Gebimmel der Leitkuh, der "Bless", der dieser Senner auf eine sehr liebevoll-unkeusche Weise zugetan war.

Und während er sich nun die Füße wusch, der junge Senner, weil es, wie schon erwähnt, wieder einmal Freitag war, und er an diesem Tag gewisse Pflichten hatte, und während er seinen Blick dabei schweifen ließ, über Berg und Tal, hatte er gute, geile Gedanken:

Denn drüben, auf der anderen Seite des Tales, auf der Brecherspitz-Alm, lebte eine gewisse Kirsten Jörgensen, die er "Babs" nannte, weil ihm das besser gefiel und weil es der Name seiner Lieblingskuh vom letzen Sommer war.

"Babs" kam aus dem fernen, hohen Norden des Nachbarlandes und war eine sogenannte friesische Alternative, die alle zulässigen Becquerel-Werte von Cäsium und Jod für Milch und Käse fehlerfrei aufsagen konnte, und die sich ausschließlich vegetarisch ernährte. Was ihrer Fleischeslust jedoch keinerlei Abbruch tat!

Die einheimischen Bauernmädchen zog es nicht mehr so häufig auf abgelegene Almen. Die wurden lieber Kosmetikerinnen in Wien oder Aupair-Girls in London. Daher wanderten neuerdings immer häufiger art- und wesensfremde Weibspersonen über die Grenze dieses Alpenlandes und verloren sich irgendwo in der unzugänglichen Bergwelt. Aus Idealismus. Und aus Liebe zur Natur. Und weil es in Ostfriesland keine abgelegenen Almen mit jungen, geilen, kernigen Sennern gab.

Zugegeben: Die fremde Sprachmelodie nervte die Einheimischen nicht unerheblich. Aber ansonsten war diese "Babs", wenn sie den Mund hielt, eine Pfundsperson.

Sie mochte dreißig sein oder auch etwas mehr. Hatte prächtige Schenkel, anständig viel Holz vor der Hütten und einen geradezu phantastischen Arsch. Und sie verstand sich auf ihr Geschäft:

Das Melken und Käsen hatte sie bei einem Ökobauern im Allgäu erlernt, das Vögeln in einer Wohngemeinschaft im Frankfurter Westend. Und in beiden Disziplinen war sie, wie der Senner jedem, den er traf, versicherte, einfach Spitze! Soweit er das, trotz seiner jungen Jahre, bereits beurteilen konnte.

Und während er sich also, im Hinblick auf die Pflichten und Freuden des heutigen Tages, die Füße wusch, seinen Blick auf die andere Seiet des Tales wandern ließ und an diese "Babs" dachte und wie er sie in gut zwei Stunden rammeln würde, auf dass diesem Weibe Hören und Sehen verginge, überkam ihn eine so gewaltige Erektion, dass es in seiner engsitzenden Hirschlederbundhose kein reines Vergnügen mehr war.

Da half auch der eiskalte Bergquell nicht viel, in dem seine dreckverkrusteten Füße hingen. Auch nicht der Klang der Glocken aus der Benediktinerabtei unten im Tal, wo man ihm außer Lesen und Schreiben die Furcht vor den Höllenqualen beigebracht hatte, die der Schöpfer dieser Welt auf die Erbsünde der Unkeuschheit folgen ließ. Auch nicht der Gedanke an die Pflichten des Tages: Freitags musste der Käse ins Tal.

Dort, gleich neben der Zementfabrik, wo aus einem hohen Schornstein grauweiße Schwaden über Felder und Auen zogen, lag die Käserei. Ein flacher Zweckbau aus Stahl und Beton. Dort wurden die runden, naturbelassenen "Käslaiber", die der ganze Stolz des Senners waren, und die im kühlen, dunklen Gewölbe unter der Hütte jeweils drei Wochen lang vor sich hin reifen mussten, in großen, blanken Edelstahlkesseln eingeschmolzen, mit zwölf offiziell zugelassenen Konservierungs-, Aroma- und Farbstoffen und allerlei überflüssigem Krimskrams vermischt, mit Paprika, Schnittlauch oder Schinkenspuren, und schließlich in winzig kleine Dreiecke gepresst, in Silberfolie verpackt, in Plastik eingeschweißt und werbeträchtig bunt etikettiert.

Diese klitzekleinen Käseportionen landeten schließlich auf den Frühstückstischen irgendwelcher internationaler Hotels. Aber das interessierte den Senner bereits nicht mehr.

Was ihn interessierte, war der Umstand, dass er sich beeilen musste. Mit dem Füßewaschen. Mit dem Verladen der Käselaiber. Mit der Fahrt hinunter ins Tal auf dem abschüssigen, ausgewaschenen, steinigen Weg, am Steuer eines rostigen, uralten Unimogs. Und mit dem Abliefern seiner Käseproduktion.

Am allerwenigsten Zeit blieb ihm zum Vögeln der "Babs". Denn zum abendlichen Melken musste er wieder zurück sein. Das war er seinen Kühen schuldig!

Man sieht, das Leben eines Senners war keineswegs mehr so beschaulich wie in jenen glücklichen Tagen, als es auf der Alm noch keine Sünd‘ und keine uralten, rostigen Unimogs gab!

Während der Senner also Kuhmist und Lehm von seinen Füßen schabte und gute und geile Gedanken hatte und außerdem recht schmerzhaft und nachhaltig seine nun einmal geweckte Männlichkeit zu spüren bekam, ereigneten sich hinter ihm, im kühlen, dunklen Gewölbe unter der Hütte, merkwürdige, erstaunliche, unbegreifliche Dinge:

Ein Sonnenstrahl war an diesem Morgen, wie manchmal um diese Jahreszeit, durch einen Spalt der Mauer gefallen und hatte für einige, wenige, kurze Minuten einen dieser runden, bleichen Käse zum Aufleuchten gebracht. Der Strom frischer Bergluft, der ständig durch diesen Schlitz zwischen Mörtel und Feldsteinen wehte, hatte ein übriges getan: Nach und nach begann dieser Käse, sich zu verfärben.

Erst in ein mattes, weißlich-getupftes, samtiges Grau.

Anschließend, fast übergangslos, in ein schwärzlich-staubiges Grün mit zart-rostbraunroten Flecken.

Zusehends bildeten sich bläulich schimmernde Inseln, durchzogen von schuppig-pelzigen Adern, besonders auf der dem Sonnenstrahl abgewandten Seite.

Während im Licht zartflockige, hellgoldgelbe Fasergebilde zu wuchern begannen.

Käse ist stets ein Produkt prallen Lebens. Die Milch, im warmen Euter einer Kuh entstanden, ist Lebenselexier an sich. Für Mensch wie für Vieh.

Das Gerinnen und Ausfällen, die Trennung von Molke und Quark, das Reifen und Fermentieren, das alles ist schließlich das Werk höchst lebensaktiver Bakterien – und keineswegs Zauberei!

Auch Schimmel und Käse waren zwei Dinge, die zusammengehörten wie Hund und Floh. Wie Speck und Maus. Auch insofern grenzte die Arbeit des Senners bisher an kein Wunder.

Nur diesmal geschah etwas überraschend Unglaubliches, etwas bestürzend Einmaliges, Unerforschliches, wenigstens soweit es diese eine Alm, diese Hütte, dieses eine Gewölbe, diesen einen, besonderen, außerordentlichen Käse betraf.

"Macht Euch die Erde untertan ..."

Das war so ein Slogan, ebenso leicht wie leichtfertig dahingesagt – und mit unabsehbaren Folgen! Diese Aufforderung auszusprechen, an die Adresse der ersten Menschen, war sträflich und fahrlässig! Selbst für einen Weltenschöpfer und Gott. Er hätte es besser wissen müssen, das Unheil, das er heraufbeschwor, zumindest ahnen!

Daher habe ich als Chronist der nun folgenden Ereignisse, besonders aber als skeptischer Zeitgenosse kontinuierlich fortschreitender Katastrophen, meine berechtigten Zweifel. Zum Beispiel: Was die Authentizität dieses Zitats betrifft.

Ausgerechnet diesem raffgierigen, aufrecht einherschreitenden Raubaffen-Abkömmling, der sich selbst hochtrabend "homo sapiens" nennt, die Vollmacht über diesen sicher nicht unwesentlichen Teil der Schöpfung zu übertragen!

Der Erschaffer dieses Planeten hätte kraft seiner Weisheit die Tragweite eines solchen Auftrages erkennen müssen.

Oder aber, dieser "homo sapiens" war schlichtweg ein Irrtum und entstand aus schierem Zufall, ungeplant, ungewollt, wie jener Schimmel auf jenem Käse, und ohne jede Notwendigkeit.

Und damit sind wir endlich beim Thema:

 

Da entreißen wir nun Stück für Stück der Natur ihre Geheimnisse – und erbeuten stets nur neue Rätsel. Und eines dieser Rätsel war nun – ebenso unbezweifelbar wie unerklärlich – dieser Käse, beziehungsweise das, was ihn zu bevölkern begann:

Die bereits erwähnten Schimmelpilzpopulationen wucherten stetig, bunt und erfolgreich über die Oberfläche dieser einstmals bleichen Kugel, vermehrten sich in geradezu erschreckender Windeseile, breiteten sich aus, veränderten sich im Sinne einer offenbar gesetzmäßigen Evolution, passten sich an, an Schatten wie an Licht, an Temperatur und Feuchtigkeit, an Tag und an Nacht, an Milchsäurebakterien, Laktose und Salz und andere ausbeutbare Substanzen – und entwickelten schließlich – glauben Sie es oder auch nicht – eine Art höheres Bewusstsein!

Mit dem Bewusstsein kam die Erkenntnis. Die Erkenntnis der eigenen Existenz. Die Erkenntnis, auf einem Käse von genau definierter Größe und mittlerer Qualität angesiedelt zu sein, der sich vom Material her in nichts von den zehn Dutzend Käsekugeln gleicher Form und gleicher Größe unterschied, die alle in Reih und Glied auf glattgescheuerten Fichtenbrettern reiften. Und die offenbar allesamt "unbelebt" waren!

Was im Augenblick zwar nicht beweisbar war, wegen des begrenzten Horizonts der Schimmelpilze, von diesen jedoch schlichtweg angenommen wurde.

Daraus resultierte wiederum die Erkenntnis ihrer uneingeschränkten Einmaligkeit:

Außerordentliche, auserwählte Schimmelpilze verstanden sich nunmehr – wohl zu Recht, da es unwidersprochen blieb – als Krönung der Schöpfung!

Und der Käse, den sie bevölkerten, war damit zweifelsfrei und unangefochten das absolute Zentrum eines Universums!

So folgte Erkenntnis auf Erkenntnis. Das Schimmelpilz-Bewusstsein wuchs und damit Schimmelpilz-Wissen und Schimmelpilz-Erfahrung, aber auch Schimmelpilz-Arroganz!

Zu alledem kam irgendwann geradezu zwangsläufig, niederschmetternd, erschreckend und unvermeidlich die Einsicht, als Schimmelpilz – s t e r b l i c h – zu sein!

Die Erkenntnis barg das Wissen um ein Ende!

Und mit diesem Wissen kam die Furcht!

Und mit der Furcht kam der Glaube!

Mit dem Glauben die Hoffnung. Und damit die Tröstung:

Dass mit dem Ende nicht alles verloren sein konnte! Und das Schimmelpilzdasein ohne jeden Sinn!

Es musste ein höheres Wesen geben, das diese Schimmelpilzpopulation und diesen ganzen Käse hier erschaffen hatte:

Ein Schöpfer! Genauer: ein Käse- und Schimmelpilz-Schöpfer! Ein gütiger, strenger, fürchterlicher Senner, der geliebt sein wollte und Unterwerfung forderte!

Ein Senner, der seine Hand über gläubige Schimmelpilze hielt, der allwissend war und weise. Der alles sah, alles durchschaute. Der verdammen konnte und strafen, aber auch, in geradezu grenzenloser Güte, alles vergeben. Der jedem einzelnen Schimmelpilz, der sich seinem unerforschlichen Ratschluß, seinen strengen Gesetzen, seiner allumfassenden Ordnung unterwarf, ein ewiges Leben versprach.

So kamen Gesetze und Ordnung auf diesen Käse – und außerdem war dies eine schimmelpilz-logische Lösung für alle schimmelpilz-metaphysischen Skrupel!

Die Rettung vor der ewigen Verdammnis war also greifbar nah, war für jeden Schimmelpilz verfügbar, sofern er nur Demut zeigte, IHM gegenüber. IHN verehrte. IHN liebte. IHM vertraute. IHN fürchtete ...! Undsoweiter, undsoweiter! Wir kennen das ja aus anderen Geschichten!

Nur: der Erzeuger von diesem Käse, der Senner wusste nichts von alledem und wusch sich weiterhin nichtsahnend seine Füße!

Nein, dies ist kein Fall von Häresie!

Analoge Entwicklungen beim Entstehen bizarrer Hochkulturen – auch in Form religiöser Rituale – sind stets zwangsläufig – zufällig und absurd gesetzmäßig!

Das ist auch kein Fall, der einen sogenannten "homo sapiens" berechtigten würde, sofern er von diesem absolut überraschenden, höchst einmaligen und wissenschaftlich denkwürdigen Ereignis Kenntnis erhält, arrogant zu lächeln!

Und auch, bitte, kein theologischer Diskurs über die Mitbeteiligung der Kuh an diesem Wunder der Schöpfung. Oder gar über den Schöpfer von Kuh und Senner. Das führte zu weit und würde nur den Blick auf drei der wesentlichsten Thesen verstellen! Und diese wären:

Schimmelpilze entwickeln mitunter eine erstaunliche Ehrfurcht gegenüber ewigen Werten.

Schimmelpilze haben eine eigene, nur ihnen gemäße Ethik und glauben – drittens – an ein höheres Prinzip. Sofern sie einen Bewusstseinsstand erreichen, wie eben geschildert. Was vermutlich höchst selten geschieht.

Wann – statistisch gesehen – gerät ein Käse schon in eine so einmalige, ökologisch trächtige Situation?

Ein Zusammentreffen diverser glücklicher Umstände – dies ein Grundgesetz der Evolution – muss außer der Erschaffung eines nackten, weißen Käselaibes schon mit im Spiel gewesen sein.

Dazu gehörte allerdings auch, dass keinerlei menschliche Neugierde in diese Entwicklung zerstörerisch-forschend eingreifen konnte. Denn eine abgelegene Alm ist – gottlob und in der Regel zumindest – kein Platz, wo sogenannter "faustischer Wissensdrang" sein Unwesen treibt.

Und die Naivität des Senners, seine Unkenntnis, seine jugendliche Geilheit und seine dreckigen Füße, waren im Augenblick noch eine gewisse Garantie dafür, dass sich die außerordentliche Schimmelpilz-Kultur auf diesem Käse auf ihre ureigenste Weise unbehelligt weiter entfalten konnte!

Mit einem sauer riechenden, feucht-schmierigen Lappen, der zum Reinigen vollgekackter Kuhzitzen stets griffbereit am Brunnenrand hing, wurden also die Füße getrocknet und handgestrickte Socken, mehrfach und nachlässig mit grobem Garn geflickt, darüber gezogen. Adidas-Turnschuhe, nicht mehr gerade neu, aber attraktiv für das Programm dieses Freitags, wurden geschnürt.

Und diese verdammte Erektion, dieses Mordstrumm Unfrieden in der hautengen, hirschledernen Bundhose, das den Senner stolz machte und stocknarrisch zugleich, weil es der falsche Augenblick war und ihn beim Socken-Anziehen schmerzhaft hinderte, ließ nicht nach.

Er lief hinter die Hütte. Dort stand dieser uralte, rostige Unimog, für den Senner das Tor zur großen, weiten Welt.

Er zerrte also die Plastikfolie herunter, mit der dieses halbe Autowrack die Woche über abgedeckt war, stieg ein, um den Wagen zu starten und vor die Hütte zu fahren, wo er die reifen Käsekugeln aus dem Felsenkeller leichter einladen konnte.

Aber der Motor sprang nicht an.

Ein kleiner, belangloser Defekt an einem technischen Gerät, eine Verzögerung im Abtransport einer Ladung Käse, eine Galgenfrist von einer knappen Stunde oder auch mehr, wir werden noch sehen, das war in diesem Fall eine der Chancen der Evolution! Nicht Polsprünge, Eiszeiten und Meteoreinschläge! Nein, nur ein feuchter Verteilerkopf oder ein verstopfter Vergaser in einem rostigen Unimog.

Und so entwickelte sich im mikroskopischen Bereich einer Käserinde, möglicherweise einmalig in diesem unendlichen Universum, am Rande einer mittelmäßigen Galaxis, auf einem durchschnittlichen Planeten, der auf einer elliptischen Bahn in einem nicht gerade außergewöhnlichen Sonnensystem kreiste, im kühlen, dunklen Keller einer abgelegenen Almhütte, in eintausendachthundertvierundsechzig Metern über dem Meer, auf einem zur weiteren Verarbeitung herangereiften Milchprodukt in Kugelform, eine bemerkenswerte Hochkultur und gelangte unter offenbar günstigsten Bedingungen zur allerhöchsten Blüte.

Was ist schon Zeit?

Die Lebenszeit von Spiralnebeln? Von Mikroben?

Wie lange währt ein Menschenalter?

Wie lange streikt ein Unimog-Motor?

Wie lange vögelt ein geiler Senner in der Blüte seiner Jugend eine ostfriesisch-alternative "Babs"?

Drei Wochen reift ein Käse. Aber eine Schimmelpilzkultur hat ihre eigenen Sekunden, Epochen und Generationen.

Außer dem verfügbaren Zeitraum für ihre Entwicklung war Kommunikation das "A" und das "O" jedweder Zivilisation! Also Verständigung zwischen blaugrünen Flimmerhärchen und rostrotbraunen Samtpolstern, zwischen grauweißschwarzen schorfigen Schuppengeflechten und hell-goldgelbglitzernden Fadengespinsten.

Als gemeinsame Umgangssprache wanderten nun Duftmoleküle einzeln und in vernetzten Systemen über den Käse dahin und kündeten von Ordnung und Gesetz, von Erfahrung und Erkenntnis, von Macht und Unterwerfung, aber auch vom Guten, Wahren, Schönen und Edlen, soweit dies ein kulturell aufgeschlossenes Schimmelpilz-Bewusstsein betraf und erfreute.

Und sie verkündeten die Worte und Gedanken des Senners! Besonders seine Gebote und seine Gesetze! Denn auch Schimmelpilze haben so ihre Propheten und einen gewissen, fatalen Hang zum Missionieren.

So gelangte die Kunde vom Allerhöchsten, vom Alleswissenden, alles Beherrschenden, alles Verzeihenden Schöpfer des Käses bis in die letzte, abgelegenste Rindenritze dieser Käsekugel.

Und es soll uns nicht wundern, wenn ER, dieses Höhere Wesen, im Bewusstsein einfältiger Schimmelpilzpopulationen die Gestalt eines wahrhaft monströsen, gewaltigen, alles überragenden, allmächtigen, leuchtenden Über-Schimmelpilzes erhielt:

Auch Schimmelpilze erdenken sich ihre Götzen und Dämonen nach ihrem jeweiligen Ebenbild.

Mal blaugrünes Flimmerhaar, mal grauweißschwarzes Schuppengeflecht, mal rostrotbraunes Samtpolster, mal zartflockiges, hellgoldgelbes Fasergebilde, je nachdem, welches Schimmelpilzvolk die Botschaft verkündete oder erhielt.

Ein phantastisches Hyper-Wesen, mit dem der Senner kaum, wenig oder eigentlich gar keine Ähnlichkeit hatte.

Der werkelte inzwischen verbissen an dem defekten Motor seines uralten, rostigen Unimogs herum, mit Flüchen auf den Lippen und trotzdem ohne Erfolg.

Die lästige Erektion in der engsitzenden, hirschledernen Bundhose war weitgehend abgeklungen, was jedoch nicht heißen sollte, der Senner hätte nun plötzlich andere, keuschere, edlere Gedanken.

Er dachte vielmehr stets nur an das Eine, immerzu! Seit es Sommer war und er auf dieser Alm hocken und Käsekugeln formen musste, und egal, was er sonst noch tat oder ließ – er dachte daran. Und an nichts anderes!

Er dachte daran, wenn er seinen Kühen das milchpralle Euter massierte und anschließend mit geschickten, geübten Händen und festem Griff aus den hübsch geformten Zitzen den scharfen, weißen Strahl in den Melkkübel spritzen ließ, dass es nur so schäumte!

Er dachte daran, wenn die Bless, seine geliebte Lieblingskuh, ihm kokett das Hinterteil zudrehte, den Schwanz hob und aus der so einladend geöffneten Spalte ihm der goldgelbe Kuh-Urin dampfend entgegensprudelte. Und natürlich auch, wenn er ihr in die dunklen, dummen, langbewimperten Augen sah.

Er dachte daran, wenn er nachts auf seinem Strohsack lag und auf die geschwärzten Dachbalken starrte, über die der flackernde Schein des offenen Feuers huschte, und er sich mit schlechtem Gewissen Erleichterung von seinen qualvoll-lustvollen Trieben verschaffte.

Oder auch tagsüber bei nämlicher Tätigkeit in frischer Luft und im duftenden Almgras liegend, zwischen Blumen und Blüten, wenn hoch über den Alpengipfeln silberne Jumbojets, die Länder und Kontinente verbanden, weißwolkige Gitternetze in das azurblaue Firmament zeichneten.

Es half nichts: Ob er nun wollte oder auch nicht: er dachte daran! Stets und immer! Er kam nicht davon los!

Auch nicht, wenn er aus der geronnenen Milch die weißen, weichen Käsekugeln formte. Mit Lust und seinen eigenen, sensiblen, braungebrannten Sennerhänden!

Oder wenn er diesen gottverdammten, verreckten, verfluchten Scheißmotor wieder in Gang bringen wollte.

Er hatte einfach nichts Höheres im Sinn, dieser Senner.

Dabei wußte er, dass es eine Todsünde war, Unkeusches zu denken oder gar zu tun, mit sich allein oder auch mit anderen, mit dieser Bless, zum Beispiel, wenn sie im Stroh vor ihm lag und er der Versuchung nicht widerstehen konnte – oder eben auch freitags mit dieser ostfriesischen "Babs". Was wesentlich mehr Spaß machte, aber eben nur einmal in der Woche, was im Schöpfungsplan so lumpig-knausrig sicher nicht vorgesehen war.

Zur Not konnte er sie beichten, seine misslungene Enthaltsamkeit. Irgendwann einmal ... Bei Gelegenheit ... im Winter vielleicht ... Drunten im Tal... Nach dem herbstlichen Almabtrieb... In der Benediktinerabtei. Bei den Mönchen. Die wussten immer genau, was der Herrgott sich so dachte! Was er erlaubt hatte und was nicht!

Aber: Einem Senner im besten Saft würde der es schon nachsehen. Warum erfindet er auch so unkeusche Dinge wie die ständige Geilheit in jungen Jahren, diesen steten Unfrieden in zu engen Hirschlederbundhosen?

Das war also die eine Welt! Die Welt des Käse-Schöpfers. Den die Schimmelpilze verehrten wie einen Gott. Dem sie Dome bauten, hochaufragende, goldene Fadenstrukturen, die bis zu den unbelebten, nackten, toten Nachbar-Käselaibern reichten. Dem sie Kathedralen tief in den Käse bohrten, Katakomben, ausgekleidet mit rostrotschimmernden, phosphoriszierenden Mycel-Geflechten.

Unter den Gläubigen begannen sich hierarchische Strukturen zu bilden. Wissende wurden von Unwissenden durch Grenzen und Schranken unüberbrückbar getrennt. Und unmerklich hatte sich eine grausame Diktatur von Hohenpriestern etabliert. Die unterschieden sich nicht nur durch den Besitz der absoluten Wahrheit vom gemeinen Volk der einfachen, ungebildeten Schimmelpilze, seien diese nun blaugrün-langfädig oder rostrotbraunsamtstämmig oder gar weissgrauschwarz-schuppenflechtig, sondern auch durch eine Art Selbstbeschränkung im Aussenden von vermehrungsaktiven Sporen, was für die gewöhnlichen sterblichen Schimmelpilze stets mit Lust und Spaß und einem elementaren Trieb verbunden war.

Die Kaste der Hohenpriester jedoch war über Trieb und Lust und über alle diese käse-weltlichen Späße, die auch ihr Schöpfer-Senner mit Gewissheit verabscheuen würde, erhaben!

Die absolute Wahrheit, die sie besaßen, bestand in dem einleuchtenden Umstand, dass sie wussten, was ihr Schöpfer, der Senner, sich dachte.

Die Gedanken des Senners, sein Wollen, sein Wille, oder wie auch immer sie ihn ehrfurchtsvoll zu titulieren geruhten, waren ihnen ein heiliges, anbetungswürdiges Geheimnis.

Nur: Da jeder dieser Hohenpriester sein eigenes Geheimnis, seine eigene absolute Wahrheit zu hüten verstand, die sich von der Unzahl anderer Wahrheiten geradezu diametral unterschied, begann ein grausamer, fundamentaler Streit!

Es war der übliche Kampf auf Leben und Tod um nicht beweisbare Glaubensartikel. Mit Ideologen ist nicht zu spaßen, wenn es um ihre Ideologien geht. Man sieht: Auch auf einem Käse kommt alles Böse vom Glauben an das sogenannte Gute!

Auch die Ideologen dieser Schimmelpilzpopulation kannten untereinander kein Erbarmen, von Toleranz ganz zu schweigen.

Auf dem Pfad, der zum großen Glück, zur Erlösung für alle gläubigen Schimmelpilze führen sollte, zur sennerlichen Liebe, zum sennerlichen Frieden und zum ewigen sennerlichen Heil, verkündeten sie nur Haß und Gewalt!

Die Methode, das Mycel, die Lebensader der jeweils andersgläubigen Population zu veröden, wurde ständig verfeinert. Ganze Segmente des einstmals so bunt belebten Käselaibs wurden entvölkert und starben ab. Rostrotbraun-samtschwämmig bekämpfte Blaugrün-langfädig mit der gleichen unnachsichtigen, inbrünstig-fanatischen Gewalt, wie Weißgrauschwarz-schuppenflechtig sich seiner gefährdeten Existenz in einem mörderischen Verteidigungsangriff zu wehren wußte.

Das ging so eine ganze Weile, bis die Mehrzahl dieser seltsamen, einmaligen, gläubigen Schimmelpilze, rostrotbraunsamtig, weißschwarzgrau-schuppenflechtig, blaugrün-langfädig, schließlich als Märtyrer im Namen des Senners in ein friedlicheres Jenseits leblos hinweggetrocknet war.

Der Käselaib, längst ungenießbar und selbst mit offiziell zugelassenen Konservierungsstoffen für den menschlichen Verzehr nicht mehr zu retten, glich nur noch einem einzigen Schlachtfeld.

Aber noch war der Kampf nicht entschieden, noch regte sich Leben und Widerstand!

Während draußen vor der Mauer aus rohen Feldsteinen der Unimog weiter streikte, weil der Verteiler zu feucht, der Vergaser zu trocken war und der Senner seinen so schönen sinn- und lustvollen Plan dieses Tages in einem Desaster enden sah.

Ein Unwetter war, zu allem Überfluß, hinter den mächtigen Zinnen der Brecherspitze aufgestiegen, eine schwarzgraue Wolkenwand, von Blitzen zerrissen.

Die Kühe flüchteten mit blechernem Geläute unter das Schindeldach, während Sturmböen die schütteren, ohnehin todgeweihten Bergfichten zausten.

In zwei Stunden war Melkzeit. Die Zeitspanne zu kurz zum Überqueren des Tals.

Die "Babs" würde also heute trocken stehen und vergebens Ausschau nach ihrem eingeborenen Lover halten. Der dachte daran mit Wehmut.

Und schon quälte er sich wieder nicht nur mit dem defekten Motor, sondern darüber hinaus mit einer neu aufsteigenden, höchst überflüssigen Erektion in seiner engen, hirschledernen Bundhose.

Und während er sich quälte und das Übliche dachte – versammelten drinnen im dunklen Gewölbe, auf jenem Käse, die Hohenpriester und Ideologen ihre restlichen Vasallen und Söldnertruppen zum letzten, zum allerletzten Gefecht:

Es ging um den Triumph, um den Sieg der allerhöchsten Wahrheit.

Es ging um das Bewusstsein, unangreifbar im Recht zu sein!

Es ging im Namen des Allerhöchsten, des Schöpfers von Käse und Schimmel, um einen Sieg um jeden Preis.

Und jede Partei erflehte seinen Beistand und wusste ihn an seiner Seite.

Und da der Unimog immer noch streikte, blieb ihnen viel Zeit für ihr mörderisches Spiel.

Für das Endspiel!

Und da diese Geschichte, wie gesagt, ein Märchen ist und keinerlei Anspruch auf Wahrheit erhebt, endet der Chronist mit den nun schon geflügelten Worten:

"Und wenn sie nicht gestorben sind, abtransportiert, eingeschmolzen und in Silberfolie verpackt, dann töten sie sich noch heute, bis zum allerletzten Schimmelpilz – im Kampf um die absolute, endgültige Wahrheit: ...

..."Was der Senner sich denkt!"

 

 

"Der Käse", erschienen in "Rettet Uns!", (Verlag ‘Die Mücke’) und im

Heyne Science Fiction Jahresband, erhielt den Kurd Lasswitz Preis und den SFCD-Literaturpreis des Science Fiction Club Deutschland e.V. - Beste Kurzgeschichte.