Kinderwunsch


Eine Inzest-Geschichte?!

Ich bitte Sie, nein!!

Das wäre ja bereits eine unverantwortliche Unterstellung. Wo es sich doch lediglich um eine Vermutung handelt, um einen vagen Verdacht. Um die zweifelhafte Möglichkeit einer rein zufälligen, schicksalshaften Verkettung.

Denn mehr als das... es hätte unter Umständen fatale Konsequenzen!

Nicht einmal die allernächsten Freunde ahnen etwas von einer bedenklichen, prekären Konstellation. Daher blieben auch die sonst üblichen Gerüchte aus, das Getuschel, Geflüster, Gemunkel. Dieser allseits bekannte Tratsch und Klatsch. Diesen Skandal hätte sich doch keiner entgehen lassen.

So leben selbst die Beteiligten zwar in uneingeschränkter Harmonie, andererseits in ständiger Ungewissheit.

Denn Beweise, wenn es denn je welche gegeben haben sollte, wurden längst stillschweigend und einvernehmlich zerstört.

Es begann mit einer Wette! Eine Wette und weiter nichts!

War es wirklich nicht mehr?

Er wusste natürlich, dass diese Schutzbehauptung falsch war. Und trotzdem blieb er bei dieser Version. Immer, wenn davon die Rede war.

Aber inzwischen kam die Rede nur noch höchst selten darauf. Er vermied jede Diskussion darüber, als sei ihm die Sache peinlich, als fürchte er, mit den Konsequenzen, den Fragen nach irgendwelchen >Ergebnissen< konfrontiert zu werden, was nun einmal in der Natur der Sache lag. Außerdem war es inzwischen unendlich lange her.

Er gab auch damals, als der Fall aktuell war, schon keine Antwort auf mögliche Fragen, und er konnte ja auch keinerlei Auskunft über irgendwelche Resultate geben. Denn während man seinen genetischen Code, also die Quersumme seiner Persönlichkeit, seiner Physis, seines Intellekts und seiner Talente vermutlich des öfteren weitergegeben hatte, blieb seine Person anonym, verborgen hinter der Mauer der ärztlichen Schweigepflicht, registriert unter dem Siegel äußerster Diskretion.

Jegliche Spur war getilgt, jeder Hinweis auf ihn gelöscht, er war geschrumpft zu einer namenlosen Chiffre, reduziert auf einen geheimen Code, vermerkt auf einer grünen Karteikarte – und auf dem Etikett eines Reagenzglases: Gefüllt mit seinem Sperma. Verwahrt im Tiefkühlfach einer privaten Samenbank.

Der Inhalt der dort archivierten Reagenzgläser sollte dazu dienen, kinderlosen Ehepaaren, sofern der Defekt am männlichen Partner lag, zu Nachkommen zu verhelfen. Bei unerfüllt gebliebenem >Kinderwunsch<.

Eine Wette hatte es also in Wirklichkeit nie gegeben. Es war ein Akt freiwilliger Übereinkunft gewesen, zwischen seinem Professor und ihm. Der hatte ihn beiläufig gefragt, und er hatte eingewilligt.

Ein wenig Eitelkeit war da natürlich mit im Spiel, dass gerade er aufgefordert worden war. Auch Stolz, sich eines Tages in Nachkommen wiederzufinden, von deren Existenz er allerdings niemals erfahren würde.

Und der Preis für diesen Hochmut war der Spott, mit dem seine Studienkollegen ihn bedachten, als sie von dieser Geschichte erfuhren.

Er hätte es besser nicht erwähnen sollen. Selbst seine besten Freunde konnten sich gewisse Anzüglichkeiten nicht verkneifen. Vielleicht war es auch nur der Neid derjenigen, die nicht für >würdig< befunden worden waren:

"Ein Kind von Einstein, meinetwegen! Okay! Aber was zum Teufel hast du schon zu bieten?!"

Oder noch etwas sarkastischer, denn der Humor von Medizinstudenten war zu allen Zeiten höchst unsensibel: "Bist du sicher, dass es dir überhaupt kommt, wenn die Schwesternschülerinnen dich dabei umlagern und neugierig zusehen, weil sie endlich mal was Rechtes lernen wollen?"

Einer lästerte: "Vermutlich legt die Mutter Oberschwester selbst Hand an den edlen Spender! Mit sterilen Handschuhen. Unter dem Kruzifix im OP! Und hinterher betet sie fünfzehn Rosenkränze, wegen ihrer unkeuschen Gedanken!"

Schließlich: "Du weißt hoffentlich, dass sie dir dabei dein Gesicht verhüllen! Damit die Anonymität gewahrt bleibt!" Undsoweiter, undsofort.

Er blieb trotz all der Sticheleien gelassen, versuchte wohl oder übel mitzulachen, fand, als es schließlich so weit war, die Prozedur eher ernüchternd, empfand die vorausgegangenen Tests und Laboruntersuchungen überaus lästig und kassierte schließlich achtzig Mark. Das war damals – im sechsten Semester – viel Geld.

Die Anonymität blieb gewahrt, kein Name wurde erwähnt und auch keine Adresse. Das entsprechende Feld auf dem Formular blieb frei für die geheime Chiffre.

Die Oberschwester kam lediglich wegen einer Korrektur in diesem grünen Karteiblatt, das er eigenhändig und noch dazu falsch ausgefüllt hatte: >Alter< sollte da stehen und nicht >Geburtsdatum<! Also strich er das Datum aus und schrieb >24< darüber. Das sollte Folgen haben! Er erinnerte sich später an dieses Detail. Genauer sogar als an den übrigen Vorgang, obwohl seither fast ein Vierteljahrhundert vergangen war.

Ein schönes Mädchen, dachte er. Sie saß, wie üblich, in der vordersten Reihe und sah ihn an. In den Gläsern ihrer Brille spiegelten sich die Lampen über seinem Pult, trotzdem konnte er ihre Augen erkennen, die interessiert seinen Ausführungen zu folgen schienen. Große, blaue Augen, mit einem sehr offenen, sehr selbstbewussten, klaren Blick.

Die anderen Studentinnen und Studenten, neben ihr, in den Reihen dahinter, hielten den Kopf gesenkt, schrieben mit oder machten sich zumindest Notizen. Manche dösten vor sich hin, hingen ihren eigenen Gedanken nach, absolvierten seine Vorlesungen als eines der leider notwendigen Übel.

Er machte sich da keine allzu großen Illusionen. Routine-Vorlesungen über Routine-Lehrstoff waren nur mäßig besucht und hatten keinen sehr hohen Stellenwert. Zum Beispiel: ‘Veränderungen der Scheidenflora durch Hefepilz-Infektionen der Gattung >candida albicans<‘.

Über Mykosen im weiblichen Genitalbereich konnte sich jeder interessierte Student der Gynäkologie innerhalb weniger Stunden in der einschlägigen Literatur umfassend informieren – und sich zweiundzwanzig Fachvorlesungen sparen. Die meisten der jungen Mediziner, die ihren Facharzt bei ihm machten, hatten sich für dieses zeitsparende Methode entschieden. Der anwesende Rest war nur mäßig interessiert und ihm mehr oder weniger namentlich bekannt.

Bis auf diese junge Frau in der ersten Reihe, mit ihren hochgesteckten, langen, dunkelblonden Haaren, die nun schon seit fast drei Wochen regelmäßig seine Vorlesungen besuchte und dabei fasziniert jedem seiner Worte lauschte.

Sie war ihm absolut unbekannt, hatte sich weder für Gynäkologie eingeschrieben, noch war sie Gasthörerin, sie saß einfach nur da, sah ihn durch ihre großen Brillengläser an und irritierte ihn.

Natürlich kam es hin und wieder vor, dass sich im Verlauf einer Vorlesung ein Blickkontakt zu einem der Zuhörer einstellte. Es entsteht eine Art >Feedback-Situation<. Die Richtung, aus der einem besonderes Interesse entgegenzukommen scheint, wird vom Unterrichtenden schwerpunktmäßig bevorzugt. Der Redner wird verführt, den Rest seiner Vorlesung überwiegend dieser einen Person zu widmen, ohne sich später an sein Verhalten oder, unter Umständen, an das Gesicht seines Hörers zu erinnern.

Die Blickkontakte mit dieser Studentin in der ersten Reihe waren ihm jedoch durchaus bewusst. Und selbstverständlich erinnerte er sich auch noch nach den Vorlesungen an dieses auffallend aparte Gesicht.

Das Mädchen ging ihm, wie man so sagt, nicht mehr aus dem Kopf. Weder tagsüber in der Klinik, in der Praxis, noch Abends, noch an seinen bisweilen etwas einsamen Wochenenden. Das empfand er, in gewisser Weise, als lächerlich. Zumindest als bedenklich. Ein Professor der Medizin, nahe der Fünfzig. Ein renommierter Frauenarzt mit gutgehender Praxis.

Andererseits vermittelte ihm der Anblick des Mädchens, der ihn so verlässlich in jeder seiner Vorlesungen erwartete, eine gänzlich neue Motivation für seine Lehrtätigkeit.

Er hatte mehrfach schon versucht, herauszufinden, wer diese junge Dame war.

Bei passender Gelegenheit, das hatte er beschlossen, würde er sie einfach ansprechen. Es war sein gutes Recht, sie zu fragen, was sie in seinen Vorlesungen zu suchen hätte. Auf seine übliche, allgemein bekannte, charmante Art natürlich.

Aber sie war ihm immer wieder entwischt, hatte sich stets sehr rasch und sehr eilig aus dem Vorlesungsraum gedrängt, ohne mit irgendeiner ihrer Kommilitoninnen Kontakt aufzunehmen, und war verschwunden.

Und eine Studentin über Korridore und Treppen hinweg zu verfolgen, das erschien ihm töricht und absolut nicht standesgemäß.

"Herr Professor ...! Bitte..."

Plötzlich stand sie hinter ihm, sehr überraschend und etwas atemlos. Sie wirkte schüchterner, als er erwartet hatte, bemüht, sich das nicht anmerken zu lassen.

"Was kann ich für Sie tun?" Dumme Floskel, dachte er, noch während er fragte. Aber irgendwie musste er das Gespräch ja in Gang bringen.

"Susanna Herold." Nach dieser Vorstellung schien sie erst einmal nachzudenken, wie sie ihm ihr Anliegen am wirkungsvollsten vortragen könnte. Es musste etwas Außergewöhnliches, etwas sehr Entscheidendes sein, dass sie bewogen hatte, ihm zu folgen und ihn anzusprechen.

"Ich wollte mich bei Ihnen bewerben! Das ist alles!"

"Bewerben? Wofür?" Erst jetzt bemerkte er, wie groß sie war. An seinen eigenen Einsneunzig fehlten ihr höchstens fünf oder acht Zentimeter. Eine ungewöhnliche Person, fand er, und zwar in jeder Beziehung. Und diese ungewöhnliche Person formulierte dann sehr klar, sehr deutlich und sehr selbstbewusst ihre Wünsche:

"Ich möchte bei Ihnen famulieren. In der Klinik. Jetzt, in den Semesterferien. Ich möchte mich da ganz offiziell bewerben."

Er nickte einige Male voller Verständnis, presste dabei die Lippen zusammen und sah zu Boden. Es war eine seiner Posen, die Nachdenklichkeit und Entscheidungsbereitschaft signalisieren sollten.

Dabei hätte er ihr jetzt ehrlicherweise sagen müssen, dass der Job einer Famula schon längst vergeben war. Dass sie leider um mehr als vier Wochen zu spät kam. Dass es eine regelrechte Ausschreibung gegeben hatte, denn Assistentenstellen waren rar bei ihm und wurden hart umkämpft. Und dass er ein neutrales Gremium mit der Auswahl beauftragt hatte. Damit es hinterher nicht hieße, er hätte eine seiner Studentinnen bevorzugt.

Ihr dies zu sagen, wäre fair und eindeutig gewesen. Und leider auch endgültig. Aber er wollte ja Zeit gewinnen. Also hob er den Blick, lächelte verbindlich und stellte dann in jenem amtsmäßigen, väterlich-autoritären Ton fest: "Wir sollten eine Tasse Kaffee zusammen trinken und darüber reden."

Sie zögerte kurz. Aber dann schien sie einverstanden zu sein: "Gut. Ja! Ich hätte zwar eine Vorlesung gehabt, die ich ungern versäume. Aber schön, reden wir und trinken wir einen Kaffee."

Sie nahm ihre Brille ab und lächelte ihn nun ebenfalls an. Es war eine Geste der Kapitulation. Und er griff nach ihrem Arm und schob sie durch die Menge, die ihnen mit dem Essensdunst auf der Treppe entgegenströmte, hinunter in Richtung Mensa.

Der Kaffee, den er aus dem Selbstbedienungsautomaten in die beiden Tassen laufen ließ, hatte eigentlich nur zwei markante Eigenschaften: dass er von dunkler Farbe war und kochend heiß.

Er balancierte die Tassen zu einem Tisch in der Nähe, an dem gerade noch zwei Plätze frei waren, stellte einen der beiden Stühle übers Eck, um sie im Blick zu haben, und deutete ihr mit einer Geste an, Platz zu nehmen.

"Warum haben Sie sich nicht früher gemeldet?" begann er. "Bei mir. Oder direkt in der Klinik." Eigentlich lag in dieser Frage bereits eine Absage. Und auch an seinem Blick, in dem eine gewisse Enttäuschung nicht zu übersehen war, hätte sie das erkennen müssen.

Sie zuckte aber nur mit der Schulter, wusste offenbar keine Erklärung auf diese Frage, hielt ihre Tasse mit beiden Händen fest, versuchte zu trinken, verbrühte sich wohl die Lippen und blies leicht über diese heiße, schwarze Brühe, bis ihre Brille beschlug.

"Sie machen Ihren Facharzt in Gynäkologie?" frage er, um ihr Zögern und ihre Unsicherheit zu durchbrechen.

Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Nicht >Gyn<. Außerdem erst siebtes Semester. Wahrscheinlich entscheide ich mich für >Päd<.

"Pädiatrie?" Er lachte kurz auf: "Eine angehende Kinderärztin als Famula in einer gynäkologischen Klinik. Na ja, warum auch nicht. Im Zeitalter der Fachidioten sicher eine sinnvolle Bereicherung der Praxis." Er stellte die Tasse ab, gab den Kampf gegen das heiße Getränk fürs erste auf und suchte ihren Blick. Aber sie hatte den Kopf gesenkt und ihre Brille war immer noch beschlagen.

"Wenn Sie sich drei oder vier Wochen früher gemeldet hätten..." Er verschwieg das Gremium, das für ihn entschieden hatte.

Da hatte sie endlich verstanden und blickte ihn an. "Der Job ist also weg. Warum sagen Sie das nicht gleich!?" Sie war eine Spur zu laut geworden, und die anderen am Tisch wurden aufmerksam. Aber darauf schien sie nicht zu achten.

"Vielleicht finden wir gemeinsam eine andere Lösung", gab er zu bedenken.

"Und wie könnte die aussehen?"

"Ich weiß es noch nicht." Und nicht nur, um zu recherchieren, wo ihre Interessen liegen könnten, sondern auch, um das Terrain abzustecken, erkundigte er sich: "Seit etwa drei Wochen hören Sie bei mir >Mykosen im Genitalbereich<. Warum?" Und als sie nicht antwortete, fragte er weiter, so behutsam und charmant, wie es ihm nur möglich war: "Da gibt es doch sicher einen gewichtigen Grund. Denn mit Kinderheilkunde hat das herzlich wenig zu tun." Sie schwieg immer noch und wirkte irgendwie verzweifelt, weil sie keine Erklärung hatte, die sie ihm anbieten konnte.

Da fuhr er schließlich fort: "Warum haben Sie sich nicht bei mir eingeschrieben? Verstehen Sie mich recht: Mich freut Ihr großes Interesse – und besonders natürlich auch Ihre Anwesenheit ...!"

Da unterbrach sie ihn: "Woher wissen Sie, dass ich nicht eingeschrieben bin?"

"Ich habe mich erkundigt."

"Ich bin Ihnen also aufgefallen, wie man so sagt."

"Ja. Sofort. Schon beim aller ersten Mal!"

"Das tut mir leid."

"Aber ich bitte Sie, Fräulein Herold! Was soll Ihnen da leid tun? Sie sind eine Persönlichkeit, die man nicht so leicht übersieht!"

"Einszweiundachtzig! Ja, ich weiß!" Ihr Kommentar war trocken, und ihre Frustration über ihre körperliche Länge, die sie offenbar nicht akzeptabel fand, war nicht zu überhören.

"Ich bin auch nicht gerade kleinwüchsig. Ich weiß, Frauen denken darüber anders. Aber wenn ich von Ihrer Persönlichkeit sprach, hat das nicht unbedingt mit Ihrer Länge zu tun. Die Ihnen übrigens ausgezeichnet steht!" Der Kaffee war inzwischen abgekühlt und füllte die Pause, die wieder eingetreten war.

"Susanna Herold ...! Sie gefallen mir. Und zwar so, wie Sie sind!" Er lehnte sich nach vorn. "Aber so kommen wir beide nicht weiter!" Er verschränkte die Arme, neigte den Kopf nach vorn und sah sie an. Es war die übliche Position, mit der er Kandidaten, die sich in ein scheinbar unlösbares Problem verstrickt hatten, zu examinieren pflegte. Aber sie begann, die Situation misszuverstehen. Diese Vertraulichkeit und sein etwas spröder, wohldosierter Charme, den er bisher immer so erfolgreich eingesetzt hatte, irritierte sie.

"Wie ist das nun, mit uns beiden – mit Ihrer Kinderheilkunde – und meiner Gynäkologie?"

Da setzte sie nun ihrerseits einen mindestens ebenso spröden, wohldosierten Charme gegen den seinen: "Vielleicht gelingt es Ihnen, Herr Professor, mich von meinem Berufsziel abzubringen?!"

Er überhörte die Provokation, weil die Idee ihm gefiel. Aber ihr kurzes Atemholen war nur der Auftakt für eine neue Attacke: "Oder was wollen Sie von mir hören? Dass ich nur wegen Ihnen persönlich in Ihrer Klinik famulieren will? Und in Ihren Vorlesungen hocke?"

Es klang keineswegs aggressiv. Nur verletzt. Als sei er ihr auf die Schliche gekommen. Hätte die Mauer durchbrochen, die sie mühsam um sich aufgerichtet hatte.

Sie trank ihren Kaffee aus und stand auf, legte die Tasse hinter sich in das Gestell für das benutzte Geschirr und stellte den Stuhl ordentlich zurück an seinen Platz. "Danke für den Kaffee. Und dass Sie sich Gedanken über mich und meine Zukunft gemacht haben."

Sie ging, ohne Gruß und ohne einen weiteren Blick. Und er hockte nun vor seinem schwarzen, ungenießbaren Kaffee und kam sich in dieser Mensa plötzlich sehr alt, sehr verlassen und sehr einsam vor.

Wie hätte er reagiert, fragte er sich, hier, an ihrer Stelle, in dieser Situation? Ebenso stolz und undiplomatisch? So kompromisslos und geradeheraus? So abweisend und ohne die Sympathien, die ihr offensichtlich entgegengebracht wurden, zu ihrem Vorteil zu nutzen?

Hätte nicht jeder vernünftige Mensch versucht, von der günstigen Gelegenheit eines direkten Gesprächs zu profitieren?

Der erträumte Job war ihr zwar entgangen, aber letzten Endes hatte er viele Chancen zu vergeben. Hielt sie ihn für einen Weiberhelden., der seine Position missbraucht? Ihn, der ein Gremium entscheiden lässt, um ja nicht in irgendeinen falschen Verdacht zu kommen?

Diesmal war er offenbar an einen Menschen geraten, der keinen Sinn hatte für Opportunismus. Der zwar verbindlich und freundlich mit anderen umzugehen wusste, weil es das Zusammenleben erleichtert, der aber niemals versuchen würde, die Gefühle eines anderen für eigene Zwecke zu mißbrauchen.

Susanna Herold wollte nichts geschenkt. Sie buhlte nicht um Protektion. Sie war gewohnt, und auch entschlossen, sich ihre Position und ihre Karriere ehrlich zu erkämpfen.

Ein alberner Anachronismus, dachte der Professor, aber bewundernswert! Er ließ die halbvolle Tasse stehen, wo sie stand, und verließ die Mensa. Das schöne, selbstbewusste Mädchen Susanna Herold imponierte ihm immer mehr. Und da er auch von sich eine gute Meinung hatte, musste er sich eingestehen, dass er sich in einer ähnlichen Situation genauso stolz, genauso charakterfest und genauso einfältig verhalten hätte.

Er war daher auch nicht erstaunt – nur enttäuscht - dass sie seinen Vorlesungen in den beiden letzten Wochen des Semesters fern blieb. Er sah sie einige Male von fern, inmitten anderer Studenten, in der Mensa, im Lichthof der Uni, auf irgendwelchen Korridoren. Sie war ja nicht leicht zu übersehen. Aber jedes mal war sie viel zu weit von ihm entfernt, um sie eventuell anzusprechen.

Am ersten Tag der Semesterferien besorgte er sich im Sekretariat der Universität ihre Adresse und machte sich auf den Weg, um ihr eine Art Versöhnungsgespräch anzubieten. Er war bereit, sich für irgendwelche Missverständnisse zu entschuldigen, und hatte ihr ein interessantes Angebot zu unterbreiten.

Ein Altbau im Norden der Stadt. Im dritten Stock eines etwas düsteren Treppenhauses stand >2 x klingeln< auf der Visitenkarte >Susanna Herold, cand. med.<, die neben vier oder fünf anderen Klebestreifen an der Tür befestigt war.

Er klingelte also zweimal und wartete. Nach einer angemessenen Frist klingelte er ein weiteres Mal und war bereits wieder im Begriff zu gehen, als sich die Tür öffnete. Eine junge Frau in einem verschlissenen Bademantel stand im Korridor und wickelte sich ein Handtuch um die nassen Haare. Sie sah ihn lange und prüfend an, bevor sie fragte:

"Sie wollen zu Susanna, ja?"

Er stieg die Stufen wieder hinauf. "Ja. Ich habe zweimal geläutet."

"Ich weiß." Sie begann sich die Haare zu trocknen. "Ich konnte nicht gleich kommen. Ich war gerade im Bad."

Daran hatte er nicht gezweifelt und nickte nur.

Die junge Frau betrachtete ihn immer noch sehr aufmerksam und mit einem gewissen Interesse

"Ja, kommen Sie rein!" sagte sie schließlich, ging voraus und machte Licht. Es war unnötig. Denn durch die altmodischen Glastüren, die rechts und links den Korridor begrenzten, fiel genügend Licht.

Eine der Türen wurde ohne zu klopfen geöffnet. "Hier. Das ist ihr Zimmer. Aber sie ist nicht da."

Er warf zögernd und mit dem Gefühl der Indiskretion einen kurzen Blick in den Raum: Hohe Wände, eine stuckverzierte Decke und der gelungene Versuch, mit jungen und sehr weiblichen Accessoires, mit Postern und Drucken, Töpfereien, Wandteppichen und geschmackvollen exotischen Souvenirs das altmodisch möblierte Zimmer bewohnbar zu machen.

Was ihm besonders ins Auge fiel, das waren die Bücher. Bücher, überall! Sie stapelten sich, fast wie bei ihm zuhause, auf dem Tisch, auf dem einzigen Sessel, auf Fußboden und Schlafcouch. Es gab eigentlich keinen Platz, um sich niederzulassen und um zu warten. Er fand es auch ausgesprochen unpassend, so einfach und ohne zu fragen in ihr Zimmer einzudringen.

"Kommt sie bald zurück?" Er stand etwas hilflos in der offenen Tür.

"Ja, so in zwei, drei Wochen etwa. Sie hat sich da nicht festgelegt."

"In zwei, drei Wochen?" Er lachte und fand die Situation ausgesprochen grotesk. "Ich glaube nicht, dass ich hier solange warten werde."

Die junge Frau war vollauf mit ihren nassen Haaren beschäftigt und hatte daher im Augenblick keinerlei Sinn für Humor. "Ja, logisch!" entgegnete sie nur. Aber dann meinte sie beiläufig: "Ich hab‘ mir gedacht, es könnte Sie interessieren, wie sie hier wohnt. Wenn Sie schon mal da sind." Wieder blickte sie ihn sehr eingehend und prüfend an. "Sie sind doch der Professor von ihr, ja?"

Diese Feststellung fand er verblüffend. "So könnte man das sehen, ja." Er bemühte sich, seinen Besuch eine sehr dienstliche, sehr offizielle Note zu geben: "Ich komme an sich wegen einer sehr wichtigen, beruflichen Entscheidung für Fräulein Herold. Telefon haben Sie ja keines in der Wohnung ...!"

"Doch, doch! Bei der Hauptmieterin im Zimmer. Aber wenn die nicht da ist ..." Sie zuckte resignierend die Schultern. "Wir haben ja alle unsere Handys. Nur Susanna nicht." Und dann fragte sie: "Worum geht es denn?"

"Sie studieren ebenfalls Medizin?"

"Ich bin Kindergärtnerin. Vorher zwei Semester Politologie und Psychagogik."

"Und woher kennen Sie mich dann?"

"Vom Foto, natürlich!" Sie machte eine Handbewegung in Richtung des offenen Zimmers. "Dort an der Pinnwand. Gehen Sie ruhig rein!"

Er ging also hinein. Stieg über einen Bücherstapel, der aus der üblichen Fachliteratur bestand. Und dann sah er das Bild, sein Bild! Es war mit einer Nadel aufgespießt, hing leicht vergilbt inmitten von Notizzetteln, Telefonnummern und Terminen. Ein Zeitungsausschnitt aus einer Illustrierten: Das Bild war knapp zwei Jahre alt. Ein Kongress in Kyoto. Und er stand am Rednerpult.

In der Fußzeile wurde er als Hauptredner erwähnt.

Es fiel ihm gar nicht so leicht, seine Verblüffung zu verbergen.

"Hängt das Foto schon lange hier?"

"Schon eine ganze Weile, ja. Eigentlich schon immer."

Auf dem Tisch lagen zwei ungeöffnete Briefe. "Und jetzt ist sie also weg. Vermutlich in Urlaub ..."

"Seit gestern Abend. Erst nach Südfrankreich, in die Provence. Und dann nach Korsika."

"Provence! Korsika! Wie schön. Allein?"

"Ja, sicher. Mit Steffen, das ist ja aus und vorbei. Schon seit Monaten. Steffen war ihr Freund."

"Aha." Er nahm es irgendwie befriedigt zur Kenntnis.

"Und jetzt kommen Sie hierher, Herr Professor. Persönlich. Ausgerechnet jetzt, wo sie weg ist! Wenn sie das hört, flippt sie aus!"

Sie lachten beide, und die junge Frau fing an, ihre Haare trocken zu schütteln, ließ ihn stehen und ging einfach hinaus.

"Kann ich Fräulein Herold schreiben? Irgendwo anrufen?" rief er ihr hinterher. Er hatte keine Lust, so ohne jedes Ergebnis wieder abzuziehen.

Da kam sie zurück, nahm von der Pinnwand ein mit zierlicher Schrift beschriebenes Stück Karton. "Das ist die Adresse ihres Vaters in Südfrankreich. Der hat auch Telefon. Dort bleibt sie einige Tage. Und >ESTEREL<, das ist der Name von dem Fährschiff, das sie gebucht hat. Und hier: Datum und Uhrzeit. Die Überfahrt. Von Marseille nach Korsika."

In der Klinik gab es zur Zeit, zumindest aus seiner Sicht, keine Problemfälle. Nichts, was der Oberarzt nicht auch entscheiden konnte. Und nach einem Dutzend Telefonaten war es ihm tatsächlich gelungen, kurzfristig eine Vertretung für die Privatpraxis ausfindig zu machen.

Für einige wenige seiner Patientinnen würde sein Fehlen sicher enttäuschend sein. Aber beim Durchblättern der vereinbarten Behandlungstermine gelang es ihm auch bei größter Sorgfalt nicht, irgendwelche therapeutischen Komplikationen zu erahnen. Alles andere, was sich an Unheil trotzdem und unerwartet einstellen sollte, fiel unter den Begriff der höheren Gewalt.

Schwierigkeiten machte eigentlich nur, wie immer, das tüchtige Fräulein Haussmann, die langjährige Sprechstundenhilfe, die er bereits von seinem Vorgänger mitsamt der Praxis übernommen hatte. Ihr Blick, als sie von seiner geplanten Abreise erfuhr, war ein einziger, stummer Vorwurf. Das Wort >Verantwortungslosigkeit< hing unausgesprochen im Raum. Bei seinem Vorgänger und Doktorvater hätte es solche Akte von spontaner Fahnenflucht niemals gegeben.

Der Vorwand mit dem >Fortbildungsseminar< überzeugte sie ebenso wenig wie der >internationale Kongress<. So etwas hatte man gefälligst langfristig zu planen. Ganz zufällig hatte sie das Telefongespräch mit angehört, als er vergeblich versuchte, für die Überfahrt von Marseille nach Ajaccio auf der >ESTEREL< noch eine Kabine und einen Platz für seinen Wagen zu buchen. Es war Hauptsaison, und er landete auf der Warteliste.

Das war für ihn kein Grund zu resignieren oder sein Vorhaben abzubrechen. Sein Plan war zu einer fixen Idee geworden. Und so startete er zwei Tage später, frühmorgens gegen halb vier, fuhr in einen wunderbaren, klaren Sommertag hinein, durch das Elsaß und Burgund, das Rhône-Tal hinunter, das er idyllisch in Erinnerung hatte und nun zersiedelt vorfand, zugepflastert mit Industrie und Kernkraftwerken.

Am späten Nachmittag traf er rechtzeitig in Marseille am Pier der Fährschiffe ein.

Und die ganze, lange Fahrt hindurch fragte er sich, ob er noch bei Sinnen sei.

Da reiste er einer Studentin hinterher, von der er nichts weiter wusste, als dass sie selbstbewusst war und intelligent. Sie schien zwar ein gewisses Faible für ihn zu haben, aber ein solider Vaterkomplex kam bei Studentinnen zwischen dem ersten und dem siebten Semester bisweilen vor. Später verliert sich das in der Regel. Da werden plötzlich die etwas jüngeren Kollegen wichtig und zuständig.

Und wenn er das kurze Gespräch vor und in der Mensa rekapitulierte, das sie sehr abrupt abgebrochen hatte, dann bürgte das nicht gerade für eine freudige Begegnung.

Seinem vergilbten Zeitungsfoto an ihrer Pinnwand zu vertrauen, war ebenfalls naiv und als Motiv für seine Reise nicht gerade überzeugend.

Ein apartes Gesicht, eine hochgewachsene Figur, lange, dunkelblonde Haare und ein offener, klarer Blick aus großen, blauen Augen rechtfertigten für einen ordentlichen Universitätsprofessor, wie er es war noch lange keine Unternehmung dieser Art.

Natürlich gab es einen durchaus triftigen, ernstzunehmenden Grund: Er hatte für Susanna Herold, cand. med., eine gute und beruflich wichtige Nachricht, die er ihr unter allen Umständen persönlich überbringen musste. Oder war das auch nur ein Vorwand?

Hatte sich der Herr Professor vielleicht ohne Sinn und Verstand in eine junge Frau verliebt? So etwas kommt vor und wäre doch entschuldbar gewesen, sollte man meinen. Aber das zu aktzeptieren kam ihm nicht in den Sinn. Er hätte jede Unterstellung dieser Art entrüstet zurückgewiesen. Bestenfalls hätte er auf mildernde Umstände plädiert und sich eingestanden, dass er, in gewisser Weise, dem Charme und der bemerkenswerten Persönlichkeit einer angehenden Kollegin erlegen sei.

Alle Indizien sprachen also für eine totale Verwirrung seiner Sinne: Er hatte alle Verpflichtungen aufgekündigt, war durch die endende Nacht, die Morgendämmerung, durch einen langen, heißen Tag gefahren, über mehr als tausend Kilometer und ohne feste Buchung auf dem Schiff, und nun bekam er Herzklopfen und feuchte Hände, weil er hoffte, in einigen Stunden diesem Mädchen gegenüberzustehen.

Eine spätpupertäre Reaktion! Und im höchsten Grade peinlich.

Er spielte in Gedanken ein Dutzend Varianten des Begrüßungszeremoniells durch, mit maßloser Überraschung oder zumindest großem Erstaunen auf ihrer Seite und den sich daraus ergebenden Konsequenzen, mal erfreulich, mal dramatisch, entwarf erfolgversprechende Strategien, um sie anschließend wieder zu verwerfen, schämte sich seiner absolut unplatonischen Phantasien, eine gemeinsame Urlaubsaffäre betreffend, die er sich ebenso ungezwungen wie erfreulich-unkeusch auszumalen verstand, die er jedoch andererseits, mit ein wenig Selbstkritik, als absolut unvernünftig, lächerlich und indiskutabel verurteilen musste, hielt anschließend wiederum diese moralischen Anwandlungen für spießig und verlogen und führte sich schließlich, ehrliche Absichten einmal vorausgesetzt, den Altersunterschied jetzt und in zwanzig Jahren drastisch vor Augen.

Mit einem Wort: Er war hin- und hergerissen!

Noch war es nicht zu spät, auf die Bremse zu treten und das Abenteuer abzubrechen. Aber in zwei Jahren wurde er fünfzig, und in seinem Alter kehrt man nicht mehr so leichtfertig um.

Da hatte man sich das Recht erworben, Dummheiten bewusst und mit allen Konsequenzen durchzustehen. Diese Erkenntnis gab ihm ein gutes Gefühl. Und er beschloss, sein Gewissen nicht weiter zu erforschen.

Das Fährschiff war natürlich ausgebucht. Für seinen Wagen gab es keine Chance. Das einzige, was die Buchung auf der Warteliste ihm einbrachte, war ein Ticket für eine Innenkabine erster Klasse. Er hätte aber auch, da er zu allem entschlossen war, zur Not auf einer Bank im Zwischendeck des Schiffes übernachtet.

Er stellte also seinen Wagen in einer nicht gerade vertrauenerweckenden Garage ab, wanderte mit seiner Reisetasche zurück zum Pier, wo in der riesigen Halle die wartenden Wagen in einer endlosen Kette aufgereiht und nach ihrer Länge und Höhe sortiert wurden, übte sich in Geduld, inmitten von Fußgängern, von Bauern, Soldaten und Tramps, zwei volle Stunden lang, bis sie an Bord gehen durften, hielt vergeblich Ausschau nach der bemerkenswerten Person, deren Wagentyp er nicht einmal kannte, und war nervös wie ein Pennäler.

"Hallo!"

Endlich hatte er sie in der Menge entdeckt, die sich auf dem oberen Achterdeck an die Reling drängte und hinüberblickte zur Stadt.

Das Schiff hatte abgelegt und zog nun langsam an der Einfahrt zum alten Hafen vorüber, am Leuchtturm, an den alten Befestigungen. Sie trug einen weißen Jeansanzug, drehte ihm den Rücken zu und überragte die anderen Passagiere um Haupteslänge.

Ihre Haare waren hochgesteckt, aber der Seewind hatte sie trotzdem zerzaust und verweht.

Als er mit seiner Hand an ihre Schulter tippte und sie ansprach, drehte sie sich zu ihm um und reagierte mit einem sympathischen, sehr verhaltenen Lächeln. Aber ihre Überraschung hielt sich in Grenzen.

"Ein ungeheurer Zufall, nicht wahr?!" Das war alles was sie sagte. Und in dieser Feststellung, die auch eine Frage sein konnte, schwang so etwas wie Unsicherheit und Argwohn mit.

Da warf er alle Strategien und sämtliche Versionen seiner so fabelhaft geplanten Einleitungsfloskeln über Bord und bekannte: "Nein! Kein Zufall! Ich habe gewusst, wo ich Sie finden werde. Und bin nur hierher gereist, um Sie zu treffen. Ich werde versuchen, Ihnen zu erklären, warum ..."

Es schien, als würde sich ihre Anspannung lösen. Das verhaltene Lächeln verschwand, sie wurde ernst und atmete erleichtert auf: "Sie sind wenigstens ehrlich! Das finde ich gut." Sie wandte sich wieder ab von ihm und schaute weiter auf diese riesige Stadt, die alle verfügbaren Hügel und Felsen und Berge überwuchert hatte, und deren kalkige Mauern, dieses Häusermeer mit seinen darüber ragenden Türmen und Kirchenfassaden, von der Abendsonne in ein warmes rotes Licht getaucht wurden.

"Und ich habe gewusst, dass Sie kommen werden!" Sie blickte ihn nicht an, während sie das sagte. "Ingrid hat mich sofort in Frankreich angerufen und hat mir erzählt, dass Sie in der Wohnung waren und mich besuchen wollten. Ich habe mich riesig darüber gefreut."

Châteaux-d’If kam nun in Sicht, das Bollwerk vor dem Hafen auf seiner kahlen Felseninsel. Und ein Möwenschwarm fiel kreischend über sie her.

Er drängte sich weiter nach vorn, bis er ganz dicht neben ihr an der Reling stand. "Ja. Ich wollte Ihnen nämlich gerne ein Angebot machen: Sie können, wenn Sie wollen, in meiner Privatpraxis arbeiten. Und ich bin sicher, wir werden uns gut verstehen."

Sie sagte nichts, kein Wort, reagierte nur stumm und sprachlos, schaute hinunter in das dunkelgrüne, schäumende Wasser, dass die Bordwand umwirbelte.

"Sind Sie einverstanden?" wollte er wissen.

Da hob sie den Kopf, nickte und strahlte ihn an. Und er fand, das war die lange Reise durchaus wert.

Die Stadt und die weißen Berge verschwanden langsam im Abenddunst. Die Sonne ging unter, und das Achterdeck leerte sich. Es wurde kühl und feucht. Und die beiden saßen auf den Stufen, die hinauf führten zur Brücke, dicht unter dem Gitter, das den weiteren Zugang für Passagiere sperrte, und hatten sich in Fachsimpeleien verloren. Er berichtete von seiner Praxis, sie hatte hundert Fragen. So hockten sie sich gegenüber, mit angezogenen Knien, jeder an einen Pfosten gelehnt, und schauten sich an.

Sie spürten die feuchte Kälte nicht, auch nicht das Hereinbrechen der Nacht, und sie merkten auch nicht, dass sie schließlich auf dem weiten Achterdeck die einzigen Menschen waren.

Und sie wären dort noch die halbe Nacht sitzen geblieben, wenn der Hunger sie nicht aufgescheucht hätte.

"Ich habe den ganzen Tag nichts Richtiges gegessen", fiel ihm ein. "Kekse an einer Tankstelle und dazu zwei Tassen Kaffee."

Also gingen sie hinein, in das helle, überfüllte Innere des Schiffes, aber das Restaurant hatte längst geschlossen und die Bar machte gerade zu.

"Ich habe noch ein paar belegte Brote. Wenn Sie so etwas mögen..." Sie begann in der großen, grünen Leinentasche herumzuwühlen, die sie bei sich trug.

Aber da hatte er eine bessere Idee, als ein Picknick in diesem riesigen, verräucherten Salon: "Unten in der Kabine, in meinem Gepäck, liegen zwei Flaschen >Côte du Rhône.< Die gab es auch an dieser Tankstelle!"

Sie stiegen zwei Treppen nach unten, wo in dem Bauch der Fähre, über dem zweistöckigen Autodeck, Hunderte von winzigen Bienenwaben, schmale, lichtlose Zellen, die sogenannten >Kabinen erster Klasse< untergebracht waren. Mit dem Schlüssel in der Hand und Susanna im Schlepptau irrte er durch die engen, verwinkelten Gänge auf der Suche nach der Nummer 293 und hatte bald jede Orientierung verloren. Ein Steward war ihm schließlich behilflich. Dabei hatte er in dieser Kabine, einige Stunden zuvor, bereits seine Reisetasche abgestellt.

Da saßen sie nun auf der schmalen Koje, tranken Côte du Rhône aus Zahnputzgläsern und teilten sich Susannas belegte Brote, schwätzten und diskutierten, bis es weit nach Mitternacht war.

"Wir sollten schlafen und morgen weiterreden", schlug er vor und stand auf. "Ich bringe Sie noch zu ihrer Kabine."

"Ich habe keine. Nur einen Pullman-Sessel, im Oberdeck. Davon stehen einige hundert in einem Saal."

"Das ist doch sicher nicht sehr bequem!"

"Möglich. Aber es war wesentlich billiger. Den Wagen mitzunehmen kostet ja schon ein Vermögen."

Da machte er den Vorschlag, spontan und ohne Hintergedanken: "Das hier ist eigentlich eine Doppelkabine. Wenn man die Rückenlehne hochklappt, haben wir zwei Liegen, betrügen zwar die französische Staatslinie um einen Kabinenplatz, aber die wird es verschmerzen!"

Sie hatte schon ihre Tasche umgehängt, sah sich um, warf ihm einen kurzen Blick zu und zögerte.

Er deutete das durchaus richtig: "Susanna, wir sollten uns jetzt auf etwas einigen, wenn wir Freunde bleiben wollen. Schließlich müssen wir die nächste Zeit auch in der Praxis miteinander auskommen: Sie sehen in mir nicht mehr den Macho, das lüsterne Monster, das es nur auf Ihre Unschuld abgesehen hat. Und ich betrachte Sie ab sofort nicht mehr als das frei verfügbare Sexualobjekt, wie das manche Frauen uns Männern so gern unterstellen."

Sie lachte nur, enthielt sich jeden Kommentars und begann, als Zeichen ihres Einverständnisses, den Mechanismus der Rückenlehne zu erkunden. In einem Schrank fanden sich noch zusätzliche Decken, und so war eigentlich alles in bester Ordnung.

"Unten oder oben?" fragte er. Sie entschied sich für oben.

Und als schließlich nur noch das blaue Nachtlicht an der Decke brannte, das schwere Schiff sich ganz leicht in der Dünung wiegte und das gleichmäßige Stampfen der Maschinen mit dumpfem Dröhnen den engen Raum erfüllte und die Zahnputzgläser klingeln ließ, erschien plötzlich, wie ein Schatten und dicht vor seinem Gesicht, eine Hand.

Über sich hörte er ein leises: "Danke!"

Er ergriff die Hand. Es war nur ein sehr kurzer, sehr kameradschaftlicher Händedruck. Dann verschwand der Arm wieder nach oben. Und er fand, er hätte eigentlich allen Grund, mit diesem Tag, der ihn fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen gehalten hatte, zufrieden zu sein.

Es war eine kurze Nacht. Susanna weckt ihn schon nach wenigen Stunden: "Sie müssen mit an Deck kommen: Korsika! Und die Sonne geht bald auf!" Er fuhr sich etwas verwirrt über das Gesicht. "Alte Männer sollten sich nicht mit jungen Weibern einlassen", stöhnte er. Aber dann wickelte er sich aus den Decken, kroch aus der Koje und kam mit nach oben.

Das Schiff fuhr dicht an der zerklüfteten Westküste der Insel entlang, und vom Land herüber wehte der Duft wilder Kräuter, Myrte und Thymian, Rosmarin, Lavendel und Salbei, und was die Macchia sonst noch an Gerüchten in sich birgt.

Susanna atmete tief ein. "Napoleon hat behauptet, er würde Korsika noch mit verbundenen Augen an seinem Duft erkennen. Schon zwanzig Meilen weit draußen auf dem Meer."

Als die Sonne schließlich über den Bergen hervorkam, durchquerte das Fährschiff bereits die Bucht von Ajaccio und legte schon wenig später im Hafen an. Es war ein früher Sonntagmorgen, und die Stadt wirkte noch verschlafen und leer.

"Nehmen Sie mich ein Stück mit?" wollte er wissen.

"Wohin?"

"Irgendwohin. Wo es schön ist. Wo ich ein paar Tage Urlaub machen kann. Ich bin nämlich ein Tramp, habe keinen Wagen dabei. Der steht noch in Marseille. Die Plätze auf dem Schiff waren ausgebucht."

"Wenn Ihnen mein Lifestyle nicht zu anstrengend ist: so mit vor Sonnenaufgang raus und Wanderungen durch die Berge, machen wir unseren Urlaub doch zusammen."

So wurden es die schönsten zwölf Sommertage seines doch immerhin schon ziemlich langen Lebens.

Mit ihrem winzigen, japanischen Wagen kurvte sie ihn über die tausend Serpentinen des >Col-de-Bavella< mit seinen scharfgezackten Graten, hinüber zur Ostküste der Insel. Dort lagen sie im Sand und schwammen im klaren, tiefblauen Wasser zwischen abgeschliffenen Felsen und unter den wuchtigen Wehrtürmen der Genueser Zeit, wanderten durch die Schluchten des >Restonica-Tals< und der >Spelunca<, durch die riesigen Kastanienwälder der >Castagniccia<, vorbei an Kirchenruinen und aufgelassenen Klöstern, beobachteten die Mufflonherden auf den Granithängen des Monte Cinto, streiften durch die verwinkelten Gassen von Bonifacio und Sartène, durch die Festungen von Calvi und Corte und hockten beim Wein in den Bistros der uralten Seeräubernester, die hoch über dem Meer an den Berghängen klebten.

Eine Vertrautheit war zwischen ihnen beiden entstanden, als lebten sie schon viele Jahre zusammen. Sie hatten, selbst bei kontroversen Themen, die gleichen, übereinstimmenden Ansichten, liebten die gleichen Dinge, hatten den gleichen Geschmack, beim Wein wie bei der korsischen Küche, teilten sich gelegentlich das kleine Zelt, das ursprünglich nicht für zwei konstruiert worden war, genossen in jeder Minute die Nähe des anderen, auch in den kühlen Nächten in den Bergen, waren über all diese Gemeinsamkeiten selbst am meisten verblüfft und hielten sich dabei streng an ihre einmal getroffene Abmachung, achteten konsequent auf die vereinbarten Grenzen.

Wenn sie in diesem Punkt ehrlich gewesen wären, hätten sie zumindest zugeben müssen, wie unnötig schwer ihnen beiden das fiel – und hätten diesen keuschen Schwur vermutlich aufgehoben. Aber der war eigenartigerweise zu einem unausgesprochenen Tabu geworden. Als sei diese Übereinkunft der Preis für das Glück, das allzu vollkommen offenbar nicht sein durfte.

Nur das förmliche >Sie< war auf dieser Reise irgendwann verlorengegangen, ohne größeres Ritual, ohne Brüderschaftskuss, einfach nur so und innerhalb von wenigen Tagen. Das vertrauliche >Sebastian< wollte ihr jedoch nicht so leicht über die Lippen, obwohl sie fand, dass dies ein schöner Name sei. >Du< und >Professor<, das ging zur Not auch.

Und welche Förmlichkeiten in Zukunft, das heißt in seiner Praxis notwendig sein würden, was Anrede und Titel betraf, das würde sich finden.

Eines Abends, als sie vor dem Feuer saßen, berichtete er von seiner gescheiterten Ehe. Die geschiedene Frau, Fachärztin für Neurologie, praktizierte in Hamburg, und Kontakte gab es seit zehn Jahren so gut wie keine mehr.

Da erzählte sie von der gescheiterten Beziehung ihrer Eltern, vom Vater, der in Südfrankreich ein Immobiliengeschäft betrieb und ihrer Mutter, die nach weiteren drei Ehen in den USA gelandet war. "Ich war nur als Kitt geplant, für eine zerbrochene Partnerschaft. Das sehnlich erwartete Kind als Retter einer schon kaputten Ehe. Und ich habe natürlich versagt. Zwei Jahre später hatten sich die beiden endgültig auseinandergelebt, und ich war überflüssig geworden und störte. Besonders meine Mutter, der ich zugesprochen worden war. Keine beneidenswerte Situation. Und die diversen Väter gingen bei uns ein und aus, die jeweils aktuellen und die ehemaligen, und alle brachten sie mir Geschenke. Weil sie ein schlechtes Gewissen hatten und fürchteten, ich könnte auf der Strecke bleiben."

"Du bist aber nicht auf der Strecke geblieben!" stellte er erleichtert fest.

"Nein", sagte sie, "aber nun leide ich an einem >Anti-Vater-Komplex<! Männer über vierzig gehen mir mit ihren ständigen Zuwendungen unendlich auf die Nerven. Und die jüngeren nehme ich nicht ernst. Dass ich dich sympathisch finde und mit dir auskomme, ist ein reines Wunder!"

"Ich bin dem reinen Wunder sehr dankbar!" stellte er nur trocken fest und bestellte, nachdem er ihr Glas vollgeschenkt hatte, eine neue Karaffe Wein. Sie saßen in einer Art Pfahlbau mitten in einer Lagune, dem >Étang de Diane<, und aßen die Austern, die irgendwo unter ihnen wuchsen.

Und als sie durch die wild zerklüfteten Felsformationen der Westküste fuhren, den bizarren >Calanche de Piani<, die wie prähistorische Monster über die Küstenstraße ragten, erklärte sie überraschend und ziemlich unvermittelt: "Eigentlich möchte ich keine Kinder!"

Er war etwas erstaunt über dieses unerwartete Geständnis. "Und weshalb nicht?"

"Sie werden oft missbraucht. Als Machtmittel der Mütter. Den Vätern gegenüber."

"Und wie kommst du so plötzlich darauf? Gibt es da irgendeinen Anlass? Irgendeine Beziehung zu dieser Gegend hier oder zu unserem letzten Gespräch?"

"Ganz bestimmt!" gab sie zu. "Aber das ist mir im Augenblick leider nicht bewusst."

Und nach einer Pause, als der Hafen von Porto mit seinen rostroten Häuserfassaden schon durch die Pinien schimmerte, fragte sie ihn: "Hattet ihr eigentlich Kinder in eurer Ehe?"

"Nein", sagte er nur. Und nach einer Weile: "Ich dachte, ich hätte das erwähnt."

"Hast du nicht. Du hast vergessen es mir zu erzählen."

"Meine Frau war zu ehrgeizig im Beruf. Da war selbst für mich und meine Probleme kaum Platz. Also: Keine Kinder!" Und nach einer Pause ergänzte er noch: "Soviel ich weiß ...!"

"Was heißt >soviel ich weiß<?"

Aber er zuckte nur die Schultern, lachte und wandte sich ab, schaute hinaus aufs Meer.

Das irritierte sie und machte sie neugierig: "Was meinst du damit, >soviel du weißt<?"

"Nichts!" gab er ihr zur Antwort und lächelte sie an. "Ich weiß wirklich nichts!"

"Was heißt, du weißt nichts ...?" Sie wirkte plötzlich überaus interessiert. "Existieren vielleicht irgendwo ein paar heimliche, uneheliche?"

"Möglich. Aber ich rede wirklich nicht gern darüber. Das Ganze war ursprünglich so eine Art Wette ...!"

"Eine Wette? Mit Kindern? Die es vielleicht irgendwo gibt?" Sie reagierte ziemlich entsetzt.

"Das mit der Wette ist gelogen. Gut. Das gebe ich zu. Und die Geschichte ist lange her. Ich war im fünften oder sechsten Semester. Und mein Professor suchte Samenspender. Es ist also denkbar ..." Er brach ab.

Und sie ergänzte mit Sachverstand: " ... dass du fünf oder zehntausend Nachkommen hast. Mehr als jeder Scheich. Mehr sogar als August der Starke! Na, das ist ja einfach fabelhaft!"

"Theoretisch: ja. Praktisch: nein. Mein Doktorvater, bei dem ich auch meinen Facharzt machte, war ein sehr konservativer Mann. Und >künstliche Insemination< war damals ein neues und sehr umstrittenes Feld. Ich glaube nicht, dass er in dieser Richtung irgendwie experimentiert hat. Er hat mir später immerhin seine Praxis übergeben und nie irgendwelche Andeutungen gemacht."

"Natürlich nicht!" Sie schüttelte den Kopf. "Was denkst du denn! Der hatte doch seinen Eid. Und seine Schweigepflicht!"

Die Sonne versank über dem Meer, und sie mussten zurück zum Hafen, reihten sich ein in die Warteschlange am Kai, standen an Deck, als Korsika hinter ihnen wie ein Schatten in der vom Mondlicht glitzernden See versank, lehnten sich aneinander und hielten sich fest, um nicht zu heulen, denn die Urlaubstage waren vorbei.

Kein Grund zur Trauer – denn eine gute Zeit lag vor ihnen, das Abenteuer der gemeinsamen Arbeit, die Bewährungsprobe ihrer Partnerschaft, Susannas Facharztstudium unter Sebastians Assistenz -, und eine lange Nacht in der schmalen Koje dieser ordnungsgemäß gebuchten >Innenkabine erster Klasse<.

Das blaue Licht leuchtete matt an der Decke. Und wieder erschien ihre Hand wie ein Schatten vor seinem Gesicht, und wieder flüsterte sie "Danke!"

Aber diesmal blieb es nicht bei einem kurzen, kameradschaftlichen Händedruck. Er ließ ihre Hand nicht mehr los. Da wusste sie, dass der Augenblick gekommen war, den unsinnigen Schwur zu brechen, und sie kletterte hinunter zu ihm. Und sie umarmten sich die ganze Nacht.

Und auch die nächste. Im Schlafwagen, von Avignon bis nach Hause. Irgendwo, weit hinten in einem offenen Wagen des Autoreisezuges fuhren ihre beiden Autos mit.

Und als es Tag geworden war und bereits die heimatliche Landschaft draußen vorüberflog, entwarfen sie Pläne und Strategien für die Arbeit in der Praxis.

Zum Beispiel das tüchtige Fräulein Haussmann betreffend, von der anzunehmen war, dass sie eifersüchtig reagieren würde, obwohl sich die Tätigkeiten, so war es wenigstens geplant, in keinem Punkt überschnitten. Und mit einer kleinen Lüge mussten sie leben. Susanna Herold wurde als Nichte des Herrn Professor eingeführt. Das klang glaubhaft, erforderte von ihnen beiden nicht allzuviel Theater und Verstellung und sicherte ihr eine respektierte Position.

Und so könnte man die folgenden Wochen eigentlich überspringen, die tagsüber viel Arbeit mit sich brachten, viel Erfahrungen für die angehende Fachärztin, aber auch viel Freude und Glück. Bis zu jenem denkwürdigen Freitag gegen halb sechs, als es zu einem Streit mit Fräulein Haussmann kam, der in seiner Konsequenz alles von Grund auf zu verändern drohte:

Die Umstellung der Patientenkartei auf Computerblätter hatte Fräulein Haussmann noch geschluckt, da das Einprogrammieren vorläufig von Susanna übernommen wurde. Aber wenn die Änderung abgeschlossen war, musste für die alte Kartei ein entsprechender Platz gefunden werden.

"Der große Stahlschrank im Labor wäre ideal", meinte Susanna. Der stand dort stets verschlossen und unnütz herum.

"Unmöglich!" protestierte Fräulein Haussmann. "Das ist der Schrank vom Chef!"

"Sie meint meinen Vorgänger!" erklärte der Professor mit unendlicher Nachsicht.

"Der hat dir die Praxis vor sechzehn Jahren übergeben und ist seit zwölf Jahren tot!"

"Richtig", sagte er. "Aber dort drinnen ruht sein Geist! Seine Patientenkartei!"

"Und die bleibt, wo sie ist!" Mit dieser Feststellung, die etwas Endgültiges hatte, verließ Fräulein Haussmann die Praxis, da es Feierabend war und Wochenende dazu, und dabei schlug sie die Tür hinter sich eine kleine Spur zu laut ins Schloss.

"Wo ist der Schlüssel?" wollte Susanna wissen.

"Mach keinen Skandal!" warnte er. "Und bring keinen Unfrieden ins Haus. Nächstes Jahr geht sie ohnehin auf Rente."

"Ich brauche den Platz aber jetzt! Und Karteien, bei denen seit der letzten Behandlung mehr als zwanzig Jahre verstrichen sind, sollten vernichtet werden."

Das sah er ein, und in Fräulein Haussmann Schublade fand sie den Schlüssel.

Der Schrank war bis zum Rand gefüllt mit einigen tausend lose gestapelten Karten und übervollen Karteikästen.

"Sieh alles durch und sortier‘ heraus, was verjährt ist", sagte Sebastian. Und verbrenne es drüben im offenen Kamin. Der Rest kommt in den Keller. Versiegelt und plombiert in Kartons. Die Vertraulichkeit muss gewahrt bleiben bis zum Jüngsten Gericht!"

Das war klar und autoritär entschieden und entsprach genau den Vorstellungen von Susanna. Und so machte sie sich also an die Arbeit.

Eine halbe Stunde später, als Sebastian das Labor wieder betrat, war der Schrank schon weitgehend geleert. Auf dem Fußboden stapelten sich die Karten, die Susanna aussortiert hatte. Sie schien nicht da zu sein, im Augenblick war sie jedenfalls nirgends zu sehen.

Er blätterte einige Stapel durch, warf einen kurzen Blick auf die Jahreszahlen der letzten Eintragungen, und dann inspizierte er den Schrank.

Ein Berg Röntgenaufnahmen rutschte ihm entgegen. Sie konnten, wie er feststellte, geschlossen vernichtet werden. Und hinter den Röntgenbildern fand er einen Karteikasten aus Metall. Der war überraschend klein und leicht, jedoch verschlossen. Und auf dem Etikett, das auf den Deckel geklebt war, stand mit der zierlichen Schrift, die er von seinem Vorgänger noch in Erinnerung hatte: >Kinderwunsch<.

Dieses Wort, der verborgene, verschlossene Kasten, das mutete ihn doch etwas seltsam an, und er nahm ihn heraus und stellte ihn auf den Tisch. Ein Schlüssel war nirgends zu entdecken. Daher beschloss er auf Susanna zu warten, die vielleicht eine praktische Idee hatte, wie der Kasten zu öffnen sei. Aber dann schob er, als er die Frontseite mit dem Schloss kurz untersucht hatte, die Spitze eines Federmessers in den Spalt und fuhr damit vorsichtig hin und her, um den Sperr-Riegel zu lösen, und das Schoß sprang auf.

Der Kasten war fast leer. Eine Metall-Leiste teilte ihn in zwei gleich große Sektionen. Vorne befanden sich etwa sieben oder acht weiße Karteiblätter, dahinter drei grüne. Das war auch schon alles.

Er griff sich die grünen, die keine Namen, sondern in der linken, oberen Ecke handgeschriebene Chiffren trugen, und da wusste er sofort, was er vor sich hatte.

Eine der drei Karten, die mit der Chiffre >SW-I<, kam ihm äußerst bekannt vor. Das war seine Schrift, ohne Zweifel. Sein Geburtsdatum war durchgestrichen, und darüber stand >24< in der Rubrik >Alter<. Und um jeden Irrtum auszuschließen hatte sein Vorgänger, von dessen Hand auch die Chiffre stammte, sehr genau und unmissverständlich das Wort >Spender< auf den oberen Kartenrand geschrieben.

Sebastian lachte laut auf. Er hatte nicht damit gerechnet, diese Karte, nach einem vollen Vierteljahrhundert, nochmals zu Gesicht zu bekommen oder mit dem ihm mehr oder weniger peinlichen Vorgang jemals wieder konfrontiert zu werden. >SW-I< - das war also er!

Sehr große Mühe hatte sich sein Doktorvater beim Erfinden des geheimen Codes nicht gemacht und auch keine besondere Kreativität dabei an den Tag gelegt. S. W., das waren Sebastians Initialen – und gespendet hatte er, was wohl die römische Eins betraf, in der Tat nur ein einziges Mal.

Er hatte vor, die Karte Susanna zu zeigen, weil der Fall doch höchst merkwürdig war und er vor kurzer Zeit erst mit ihr darüber gesprochen hatte. Da drehte er die Karte um und entdeckte auf der Rückseite, säuberlich mit Datum und Uhrzeit versehen, eine einzige Eintragung: >rezip.<, was wohl auf den Empfänger deutete, und dahinter >Ch. Herold<.

>Herold<? Er stutzte. Hatte die Eintragung etwas mit Susanna zu tun? Unsinn! Die konnte nicht die Patientin seines Vorgängers sein. Der Name war nicht allzu selten. Und außerdem der Vorname: >Ch.<!

Aber dann legte er seine grüne Karte zur Seite und nahm sich, von irgendeiner Ahnung getrieben, die weißen Karten vor.

Die waren dreifach gefaltet, wiesen in der Regel viele Eintragungen auf und trugen offen Namen und Anschrift. Und unter diesen sieben oder acht Karten fand sich auch eine mit dem Namen >Herold<. >Charlotte Herold<, >geb. 28.7.38<, >Bergaustraße 14< usw. Telefon etcetera.

Es gibt Ahnungen, die kommen aus dem Instinkt, andere wieder aus vagen Indizien. Diesmal kam beides auf fatale Weise zusammen.

Er kontrollierte die zahllosen Eintragungen. Über volle drei Jahre war Charlotte Herold bei seinen Vorgänger in Behandlung gewesen, regelmäßig, oft zwei-, dreimal im Monat, und dabei in der Kartei >Kinderwunsch< gelandet. Und unter den letzten Eintragungen fanden sich dann, jeweils mit Datum, die Notizen: >insem. art.< mit dem roten Zusatz >concept.!< am rechten Rand. Und in Klammern war bei dieser Notiz über die künstliche und offenbar erfolgreiche >Insemination< auch der Spender angegeben: >don: SW-I<. Aber das ahnte Sebastian bereits, bevor er es gelesen hatte.

Nach etlichen genauen Zwischenuntersuchungen im Laufe des Jahres, die offenbar alle zur großen Zufriedenheit von Arzt und Patientin ausgefallen waren, wurde schließlich, pünktlich nach neun Monaten, stolz und freudig, das Schlussergebnis dieses Experiments notiert: >nasc. puella!, ein Mädchen also. Dann folgten sämtliche Daten, Größe und Gewicht und später als Zusatz, mit anderer Tinte und vermutlich viel später geschrieben der Name: >Susanna Margaretha<.

Es gibt einhunderttausend Zufälle. Aber dieses Ereignis hatte an Susannas Geburtstag stattgefunden.

Man konnte für oder auch gegen den Begründer dieser renommierten Praxis eine Menge vorbringen, nur, gewissenhaft war er auf alle Fälle, bis hin zur Pedanterie.

Bevor Sebastian noch alle Konsequenzen dieser eindeutigen Informationen bis zum bitteren Ende durchdenken konnte, hatte er bereits automatisch gehandelt. Er sortierte die grünen und weißen Karten wieder ordnungsgemäß in den Kasten, und das Schloss schnappte zu, gerade als Susanna die Tür öffnete und hereinkam. Sie schleppte etliche Kartons, die sie irgendwo im Keller entdeckt hatte, und widmete dem verwirrten Sebastian nur einen kurzen, beiläufigen Blick.

"Was ist das?" wollte sie wissen, als sie den kleinen, metallenen Kasten in seiner Hand bemerkte.

"Ich weiß es nicht", log er, um wahrheitsgemäß fortzufahren: "Ich sehe ihn zum ersten Mal." Damit stellte er ihn beiseite.

Sie las das Etikett: >Kinderwunsch< und wurde neugierig. "Gibt es keinen Schlüssel?" fragte sie. Er schüttelte nur den Kopf und ging hinaus. Und er stand bereits in der Tür, als er nochmals zurückkam und den Kasten an sich nahm.

"Was willst du damit? Wenn du keinen Schlüssel hast? Aufbrechen?" Erst jetzt fiel ihr auf, dass er irgendwie verändert war. Er wirkte unruhig. Eben noch hatte er sie mit einem langen, eigenartig prüfenden Blick betrachtet, jetzt fühlte er sich ertappt und sein Blick irrte unstet durch den Raum.

"Ich habe dich etwas gefragt!" Sie stand auf, ging zu ihm, schaute ihm ins Gesicht, ganz lieb und voller Anteilnahme. "Ist irgend etwas?"

"Was soll sein?"

"Du bist gestresst. Und hörst nicht zu: Was du mit dem Kasten vorhast, habe ich gefragt."

"Ins Feuer ...!" antwortete er. Und nach einer angespannten Atempause. "Den Inhalt vernichten. Weiter nichts!" Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Ein fragwürdiges Indiz musste aus der Welt geschafft werden, und alles würde wieder sein wie vorher. Oder etwa nicht?

Da nahm sie ihm das Kästchen ab. "Ich mache das schon." Sie legte es in einen der großen Kartons und warf einen Stapel der aussortierten Karteikarten darüber.

Er hätte jetzt Susanna fragen können, ob ihre Mutter tatsächlich, wie er in Erinnerung hatte, >Charlotte< hieß, am 28.7.1938 geboren wurde, und ob sie ihre eigene Kindheit in der Bergaustraße 14 verbracht hatte. Aber diese kleine Unsicherheit war ihm möglicherweise ebenso willkommen, wie der Gedanke, dass da ein Mann namens Herold als juristischer Vater noch mit im Spiel war.

Es war nicht anzunehmen, dass dieser, bevor das Wunschkind endlich zu entstehen begann, ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte und sich seinen ehelichen Pflichten und Freuden enthielt. Auch wenn er, aus medizinischer Sicht, vermutlich als der Verursacher der ursprünglichen Kinderlosigkeit anzusehen war. Aber auf welche Diagnose ist schon endgültig Verlass?

So war seine einzige Sorge eigentlich nur die, dass der brisante Inhalt des Kastens tatsächlich und zwar umgehend im Feuer landete, noch bevor Susanna die diese ungeheuerliche Enthüllung, wie er sie empfand, zur Kenntnis nehmen konnte.

Im Augenblick bestand jedoch noch keine Gefahr. Sie hatte offensichtlich genug zu tun, und sie würde den Kasten nicht ohne weiteres öffnen.

Aber in diesem Punkt irrte Professor Sebastian und scheiterte an seiner partiellen Unkenntnis der weiblichen Psyche, was für einen Gynäkologen eigentlich sträflich ist.

Denn kaum hatte er den Laborraum verlassen, als Susanna in ihrer Tätigkeit innehielt.

Ihr Unterbewusstsein hatte Sebastians Verwirrung, während er den kleinen Kasten in seinen Händen hielt, durchaus registriert.

Mag sein, dass da ein gewisser Zusammenhang bestand, vielleicht nur zufällig oder auch willkürlich.

Und wenn Sebastian auch scheinbar unfähig war, das Schloss zu knacken, sie würde da schon einen Trick finden, dem >Kinderwunsch< auf den Grund zu gehen.

Mit einem Federmesser, das sie in den Spalt unterhalb des Deckels schob und vorsichtig, mit Gefühl, zum Schloss hin bewegte, hoffte sie, den Sperrhaken zu lösen. Auf solche Ideen kommen Männer eben nie, oder nur selten. Es fehlt ihnen einfach der praktische Sinn für gewisse, sensible Zusammenhänge.

Der Kasten mit dem >Kinderwunsch< schnappte auch tatsächlich nach dem ersten Versuch sofort auf und gab seinen spärlichen Inhalt preis. Einige wenige Karteikarten, weiß und grüne, alphabetisch geordnet, stapelten sich hintereinander.

Die weißen betrafen, das stellte sie sofort fest, die Patientinnen des legendären Chefs. Sie blätterte sie also durch, auf der Suche nach dem Datum der Verjährung. Und dabei stieß sie, geradezu zwangsläufig, unter >H< auf die Krankengeschichte ihrer eigenen Mutter.

Krankengeschichte? Es war das minutiös geführte, ärztliche Protokoll zum Thema >Kinderwunsch<.

Was sie da las, das war schon im höchsten Maß kurios. Da wurde untersucht und therapiert, wurde verschreiben, gespritzt und herumlaboriert, mit Moorbäderkuren, Hormonen und zyklischen Terminen, mit ehelicher Enthaltsamkeit über Wochen und dann Kohabitation auf Bestellung und Zuruf, nach Kalender und Vorschrift.

Es war die lange und ausführlich notierte Leidensgeschichte einer fixen Idee: >Ich will ein Kind!< Und diese, im wahrsten Sinn des Wortes >hysterische< Tortur, der Susanna ihre Existenz verdankte, ging über mehr als drei Jahre.

Aber schließlich und endlich wurden ja alle Bemühungen belohnt und gekrönt durch die Geburt eines Mädchens: >Susanna Margaretha<!

Es war zu komisch! Susanna lachte laut auf und wollte schon Sebastian holen, um ihm diesen seltsamen Fund zu zeigen, da fiel ihr Blick auf eine der letzten der winzig kleinen, säuberlich geschriebenen Notizen, offenbar von des Doktors eigener Hand: >art. insem.<

Wie denn? Eine künstliche Befruchtung? Und auch noch >concept.!< also erfolgreich. Und der Samen stammt nicht etwa von ihrem Vater, sondern von einem Spender: >don: SW-I<!

Die Verwirrung, die sich sehr spontan bei Susanna einstellte, war ähnlich wie die von Sebastian, und sie ergänzten sich in gewisser Weise. Auch hier mischten sich höchst fatal Instinkt und Indizien: Wer war der Spender >SW-I<?

S. W. – das waren doch Sebastians Initialen. Und hatte er ihr nicht selbst erzählt, eine Wette, oder vielmehr keine ...?

Eine der drei grünen Karten mit dem Vermerk >Spender< gab ihr eindeutig Aufschluss. Sie kannte die Schrift. Auch wenn seit damals fünfundzwanzig Jahre vergangen waren.

Und sie kannte auch das Datum, das durchgestrichen war, weil nur das Alter gefragt war: Sein Geburtstag. Sie hatte ihn erst vor wenigen Tagen in ihrem Notizbuch vermerkt, um ihn gebührend zu feiern. Und jetzt dies!

>SW-I<! Ihr Vater! Ein Code, den sie in weniger als zwei Minuten geknackt hatte, und der nun den Rest ihres Lebens zu verändern drohte.

Und während sie mit zitternden Händen die weißen und grünen Karten wieder in den Kasten legte, den Deckel und das Schloss zuschnappen ließ, um schließlich alles wieder unten im Karton zu vergraben, brach eine Welt für sie zusammen.

Minutenlang saß sie auf dem Boden des Labors, starrte auf die verjährten Behandlungserfolge, auf Röntgenaufnahmen verklebter oder verkrümmter >Ovarien< und >Tuben< und war unfähig, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen.

Sie wollte Sebastian zu Hilfe holen, aber was hätte der tun können, um sie zu trösten? Das letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war ein liebevoller, tröstender Vater. Von dieser Sorte hatte sie in ihrer Jugend ja schon genug genossen.

Nein, das hier war eine Katastrophe. Und mit der musste sie, im Augenblick zumindest, allein fertig werden.

Das Feuer brannte hell lodernd im Kamin und verschlang die Krankengeschichten von Jahrzehnten. Susanna saß davor, und ihr Blick verlor sich in den Flammen.

Als sie Sebastian eintreten hörte, nahm sie die Kassette aus dem Karton und warf sie, so wie sie war, ungeöffnet, in die Glut.

"Warum machst du sie nicht auf?" fragte er, als die Hitze schon den Lack zerfraß und zu Blasen zerkochte.

"Ich habe keinen Schlüssel!" gab sie wahrheitsgemäß zur Antwort.

In wenigen Minuten würden die grünen und weißen Karten auch so zu Asche zerfallen sein. Und Sebastian verließ zufrieden und schweigend das Zimmer.

Sie hatte ihn nicht angesehen. Aber irgend etwas hing in der Luft, außer dem Rauch vergilbten, verbrannten Papiers, etwas Unausgesprochenes, Bedrückendes, Bedrohliches. Oder bildete sie sich das nur ein?

Nach wenigen Minuten kam er zurück. Mit einer Flasche Champagner der edelsten Sorte. So etwas bekommen erfolgreiche Gynäkologen von dankbaren Patientinnen manchmal geschenkt.

Er nahm zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie daneben. Dann legte er eine Platte auf. Es war das korsische Volkslied, das sie mitgebracht hatten, und bei dem sie immer so unendlich traurig wurde und feuchte Augen bekam. Weil es Erinnerungen weckte.

Und da wusste sie, dass etwas Ungeheuerliches unmittelbar bevorstand.

"Was tust du da?" fragte sie. Und in ihrer Stimme schwang eine geradezu fiebrige Ängstlichkeit.

"Ich zünde eine Kerze an, wie du siehst." Er zündete sie wirklich an, ungeschickt und mit zitternden Händen.

"Warum das alles?"

"Feierliche Anlässe erfordern ein Mindestmaß an bürgerlichem Ritual." Das sagte er so einfach. Und dazu lächelte er. Und sie hatte das Gefühl, es sollte hintergründig klingen.

"Vielleicht", gab er zu bedenken, als die Kerze endlich brannte, "vielleicht lösche ich sie auch gleich wieder aus. Und die Flasche mit dem Champagner bleibt zu. Das kommt ganz darauf an, wie du reagierst. Ich muss dir etwas sagen!"

Nein! Dachte sie. Nein! Nein! Nein! Bitte nicht! Keine Eröffnung! Keine Familienzusammenführung, keine Enthüllung und kein Bekenntnis!

Lieber Gott, lass ihn schweigen! Er macht doch alles nur kaputt!

Ich war so glücklich! Und ich brauche keinen Vater mehr! Ich brauche einen Mann! Einen, der mich über alles liebt!

Ich bin eine Frau und kein Kind! Und lass doch bitte, bitte, alles so wie es ist!

Aber in Wirklichkeit sagte sie nichts, kein einziges Wort, war nur etwas blass und verwirrt und starrte ihn an.

Und mitten in das Schweigen hinein fragte er: "Susanna. Würdest du mich heiraten?"

Gestern noch, ach was, vor einer halben Stunde, wäre sie jetzt aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen.

Aber nun? Er konnte nicht wissen, was sie wusste, sonst hätte er diese Frage nicht gestellt.

Er konnte nicht ahnen, was in diesem Augenblick, eingesperrt in einen kleinen, glühenden Stahlbehälter, umgeben von der Glut verjährter Krankengeschichten, zu Asche zerfiel.

Wenn sie jetzt >NEIN< zu ihm sagen würde, müsste sie das begründen. Aber wie konnte sie das, ohne Beweise? Und die Beweise waren in dieser Sekunde bereits vernichtet. Und ohne Beweise würde er das >NEIN< niemals akzeptieren, und alle Behauptungen, die sie anführen würde, als Hirngespinste zur Seite fegen.

Sie durfte ja gar nicht sagen, was sie entdeckt hatte. Zwar soll man eine Ehe nicht mit einem fundamentalen Geheimnis belasten. Eine Partnerschaft sollte auf absoluter Offenheit gegründet sein. Aber sie war selbstverständlich gebunden durch ihre ärztliche Schweigepflicht. Die stand über allen privaten Gefühlen.

Das alles ging ihr blitzartig durch den Kopf und lähmte ihren Willen. Und da diese Augenblicke des Zögerns ihm zu lang erschienen, kam er näher, hockte sich neben sie auf den Boden und schaute sie an.

"He! Was ist? Hast du nicht verstanden? Ich habe um deine Hand angehalten! Bitte: sag >ja< oder >nein<!"

Da sah er, dass sie heulte.

Und sie wollte doch nicht, dass er es sieht.

Vermutlich war nur die Musik daran schuld. Und die Kerze. Und der ungeöffnete Champagner. Und überhaupt diese ganze vertrackte Situation!

Und da erinnerte sie sich zum Glück, dass sie vorhin, als sie den Karteikasten geöffnet hatte, gar nicht richtig hingesehen haben konnte, weil sie doch in Eile und total verwirrt war. Und nun war es damit ja ohnehin zu spät.

Da fiel sie ihm doch noch um den Hals. Und das keineswegs zu spät. Und sie lachte, während er doch ihre Tränen feucht und heiß an seinem Nacken spürte.

"Natürlich will ich dich!" sagte sie. "Natürlich! Du bist doch längst mein Mann. Was denn sonst!"

"Dann ist ja alles in bester Ordnung!" meinte er dazu, stand auf, warf noch einen kurzen Blick in die Flammen, wo der eiserne Kasten bereits glühte, und füllte die beiden Gläser mit dem versprochenen Champagner.